Die Thesen und Kritiken des deutschstämmigen US-amerikanischen Psychoanalytikers und Sozialphilosophen Erich Fromm (1900-1980) an der modernen Gesellschaft seiner Zeit, der Vereinigten Staaten von Amerika, lassen sich als eine fundamentale Kritik am sog. „gesunden Menschenverstand“ verstehen. Die „Normalität“ erschien ihm nicht nur in seinem brillanten Buch über „Wege aus einer kranken Gesellschaft“ (Original: 1955) vor allem als ein grundlegendes gesellschaftliches Problem, sondern wurde auch zum eigenständigen problematisierten Thema seines postum erschienen Bandes über die „Pathologie der Normalität“ (Deutsch: 1991) – einer Zusammenstellung von Vorträgen und kurzen Artikeln aus den 1960er Jahren zum Thema. Seine Kritik an der offenbar weit verbreiteten Akzeptanz einer „Normalität“ einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) bzw. „einer saturierten Wohlstandsgesellschaft“ (John Kenneth Galbraith) zeigten seine intellektuellen Wurzeln in der Kritischen Theorie der Gesellschaft, die am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main, intellektuell erdacht und programmatisch beforscht wurde. Seine Kritik ist – trotz aller besonderen Wege, die sie nach seiner Emigration in die USA und (später dann) nach Mexiko erfuhr – zweifellos im Kontext jener intellektuellen Bewegung zu betrachten, die Alex Demirovic (1999) in seiner lesenswerten Habilitationsschrift als das Habitat des non-konformistischen Intellektuellen rekonstruiert hat.
Und dennoch: aus einer einer spät- oder postmodern gesprägten soziologischen Perspektive stellt sich die Frage, ob diese Kritik von Erich Fromm – oder auch der älteren Kritischen Theorie – an der „Vermassung“, von der besonders Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sprachen, oder der konformistischen Normalität, die vor allem Erich Fromm angprangerte, heute noch gültig sein kann. Immerhin befinden wir uns im Zeitalter der Flexibilität und des „postmodernen Ich“ (Funk 2011). Ist eine Kritik gesellschaftlicher Konformität in einer spätmodernen Gesellschaft nicht gegenstandslos, in der die „Bastelbiographien“ (Beck 1986), der postmoderne Relativismus (Bauman 1997), das „unternehmerische Selbst“ (Bröckling 2005), die „hybriden Identitäten“ der Singularitätsgesellschaft (Reckwitz 2017) oder pluralen Lebensstile einen „komplexen Liberalismus“ (Nassehi 2021) begründen und die Flexibilität von Allem und Jedem zum neuen Lebensexlixir und jedwede Rigidität zum Symbol gesellschaftlichen Versagens (Lessenich 2009) gerinnen? Diese Frage treibt nicht nur die jüngere deutsche Soziologie um, sondern war bereits Bestandteil der Auseinandersetzung US-amerikanischer Soziologen und Philosophen mit der Tradition der Kritischen Theorie und der Postmoderne seit den 1990er Jahren (Kellner 1989; Best/Kellner 1991, 1997, 2001).
Es ist das Ziel dieses Essays, die These zu entwickeln und zu begründen, dass entgegen dem ersten Impuls, die Kritik des Konformismus ganz im Gegenteil zum oberflächlichen Augenschein in der spätmodernen bzw. postmodernen Gesellschaft hochaktuell ist, ein Bedarf an non-konformistischen Intellektuellen oder non-konformistischen Pragmatikern folglich bleibt. Um dies zu begründen bedarf es jedoch einer Reformulierung der gesellschaftstheoretischen Grundlagen der Spät- bzw. Postmoderne in einem politökonomischen Gewand. Meine These ist, dass nach dem Nachvollzug des Wandels von einer fordistischen Massenproduktion zu einem flexiblen Massenkonsum im Postfordismus eine Aktualisierung der Fromm’schen Kritik am Konformismus möglich ist. Nicht der Konformismus, die pointiert auf die begriffliche Spitze getriebene „Pathologie der Normalität“ ist gegenstandslos geworden, ihre bzw. seine gesellschaftstheoretischen Grundlagen haben sich gewandelt. Die Kritik an der „Pathologie der Normalität“ muss auf der Höhe der Zeit des flexiblen Kapitalismus sein, um überhaupt ihren Gegenstand wiederfinden zu können. Dabei gilt es zunächst, die beiden „Normalitäten“ – des fordistischen und des postfordistischen Kapitalismus – in ihrer historischen Entwicklung und Ungleichzeitigkeit zu beschreiben, die deutlich machen können, dass die Fromm’sche Kritik hochaktuell geblieben und keineswegs gegenstandslos geworden ist. Dabei wird sich auch zeigen, dass die frühe Kritik an dem (kritikwürdigen) Konformismus der fordistischen Gesellschaft aus bestimmten Klassenmillieus die Transformation der Pathologien der Normalität in sich trug und im Postfordismus – nicht-intendiert, aber doch nicht weniger manifest – befördert hat, wie kluge Beobachter schon früh erkannt haben (Hirsch/Roth 1986; Boltanski/Chiapello 1993).