Klimawandel, unsere letzte Chance und Erich Fromms „Revolution der Hoffnung“

Vorbemerkung: bei diesem Text handelt es sich um ein Rohmanuskript, das meinem Vortrag auf der Konferenz „Zukunftskonferenz: Nachhaltige Gesellschaft. Handeln für den Wandel“ der Internationalen Erich Fromm-Gesellschaft und der Evangelischen Akademie Hofgeismar am 5. Juni 2022 in Hofgeismar zugrundelag. In überarbeiteter und erweiterter Form fließt es in das derzeit in Arbeit befindliche Buchmanuskript ein, welches unter dem Titel „Revolution der Hoffnung“ im Jahr 2025 veröffentlicht werden wird. Eine als Schriftfassung publizierte konsolidierte Fassung des Vortrags findet sich hier.

In meinem Vortrag möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit die „Revolution der Hoffnung“, von der der Sozialphilosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm im Angesicht der „Krise des Fordismus“ – davon spricht er nicht, aber so möchte ich es formulieren – der späten 1960er Jahre und der manifesten Gefahr der gegenseitigen Auslöschung der Blöcke durch die atomare Bedrohung uns heute noch etwas zu sagen hat. Brauchen wir wieder oder immer noch eine „Revolution der Hoffnung“? Und was kann, was soll sie heißen im Angesicht der derzeitigen doppelten Existenzkrise der „globalen Welt“ aus Umweltkrise und Weltkriegsgsgefahr? Was kann „Revolution der Hoffnung“ in Bezug auf die Klima- und Nachhaltigkeitskrise bedeuten? Brauchen wir vielleicht auch eine „Revolution der Hoffnung“ zur Verhinderung der universellen Vernichtung durch einen neuen Kalten Krieg, der in der Ukraine in sehr kurzer Zeit „sehr heiß“ geworden ist? Besorgte Beobachter warnen vor einem atomaren Armageddon eines „Dritten Weltkrieges“. Nicht zuletzt auch unser Bundeskanzler – bevor die „Kreativitiät“ für „schwere Waffen“ von Annalena Baerbock dazwischen kamen und die sybillinischen Andeutungen verschwanden und einer unbedingten Niederlage Russlands wichen (siehe hierzu auch die überzeugende Analyse der Bedrohungslage durch den 2010-Frommpreisträger Noam Chomsky). Was also kann uns eine alte Geschichte über die „Revolution der Hoffnung“ inmitten des Ausbruchs der 1968-Kulturrevolution überhaupt noch über politische, wirtschaftliche oder kulturelle, kurz: gesellschaftliche Transformationsperspektiven sagen?

Um die Aktualität der Fromm’schen „Revolution der Hoffnung“ für die heutige Klima- und Nachhaltigkeitskrise, die eine Krise der vorherrschenden globalen Produktions- und Konsumptionsweise ist, zu begründen, ist es zunächst in einem ersten Schritt nötig, sich des ursprünglichen weltgesellschaftlichen Kontextes und den auf Transformation zielenden Überlegungen Erich Fromms in der Formationskrise des fordistischen Kapitalismus in den USA und der von ihr hegemonial gefassten „Pax Americana“ zu versichern. Dabei wird deutlich werden, dass die doch so weit auseinander liegenden Krisenphasen damals und heute bemerkenswerte Parallelen und Ähnlichkeiten aufweisen, in ihnen aber zugleich auch grundlegende strukturelle Unterschiedliche erkennbar sind. Das kann auch gar nicht anders sein, denn gemäß der anthropologischen Konstante, dass der Mensch eine „lineare Existenz“ aufweist, wie es geradezu philosophisch in der Science Fiction-Serie Deep Space Nine immer wieder intoniert wird, wenn der (afroamerikanische) Held der Serie, der Leiter der gleichnamigen Weltraumstation fernab der Erde nicht-linearen Existenzweisen die existenzielle Bedeutung der „Menschheit“ klar zu machen versucht.

Die auch sehr existenzielle Verbindung von Gestern, Heute und Morgen ist – entgegen der epischen und gleichnamigen letzten Doppelfolge der Next-Generation-Enterprise der frühen 1990er Jahre – ich oute mich gerne als „Trekkie“ – die historisch-lineare Zeit menschlicher Entwicklung, so dass wir gar nicht umhin können festzustellen, dass gesellschaftlicher Wandel in kapitalistischen Marktgesellschaften, die in großer Mehrheit die heutige Staaten- und Gesellschaftswelt prägen, sowohl in Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten stattfindet. Nach der Skizze des historischen Kontextes und der Originalität der Frommschen „Revolution der Hoffnung“ in den zeitlichen Epizentren der 1968-Kulturrevolution gilt es daher die gemeinsamen und neuartigen Bezugspunkte herauszuarbeiten, welche die Klima-/Nachhaltigkeitskrise (und die Krise des Neuen Kalten Krieges, wenn mir dieser Ausflug erlaubt ist) mit allen ihren zerstörerischen Folgen und existenzgefährenden Konsequenzen heute verstehbar machen. Denn – erinnern wir uns – das noch sehr zarte Pflänzchen der menschengemachten Klimakrise erblickte als wissenschaftliche Hypothese in den 1950er Jahren das Licht der Welt, als der US-amerikanische Geophysiker Roger Revelle, wie uns Al Gore einst berichtete, folgende Überlegung anstellte:

„Er sah voraus, dass der globale wirtschaftliche Aufschwung nach dem 2. Weltkrieg, der durch die Bevölkerungsexplosion angetrieben und vor allem durch die Verbrennung von Kohle und Öl in Gang gehalten wurde, einen noch nie da gewesenen, gefährlichen Anstieg des CO2-Gehalts der Erdatmosphäre zur Folge haben würde.“

Al Gore, Eine unbequeme Wahrheit. Die drohende Klimakrise und was wir dagegen tun können, München: Riemann 2006, S. 38.

Von dieser singulären Hypothese bis zur universellen Feststellung eines anthropogenen Klimawandels war der Weg noch steil und steinig. Wir alle aber haben ihn betreten und stehen – so die Anklage der Fridays-For-Future-Bewegung – vor einem kollektiven Scherbenhaufen. Der historische Zeitpfeil weist also von damals bis heute in eine ähnliche (nämlich: fossilistisch-kapitalistische) Richtung, so dass Kontinuitäten als wahrscheinlich anzunehmen sind. Ist es da nicht bereits gerechtfertigt, von der Frommschen „Revolution der Hoffnung“, die inmitten dieser weltgesellschaftlichen Konstellation als Vision formuliert wurde, einige Einsichten erwarten zu können? Im Hauptteil meines Vortrags will ich daher die Argumente für und die aktuellen Herausforderungen, die sich in Folge der Klima- und Nachhaltigkeitskrise zeigen, erörtern, die für die Aktualität einer „Revolution der Hoffnung“ im Sinne Erich Fromms sprechen. Doch zunächst: steigen wir ein in die 1950er und 1960er Jahre, in denen Erich Fromm im Angesicht von drohendem Atomkrieg, manifestem Vietnamkrieg und sozialökologisch bereits desaströsen Verhältnissen im US-amerikanischen Kapitalismus eine „Revolution der Hoffnung“ forderte. Was war der historische Kontext der „Revolution der Hoffnung“? Welche weltgesellschaftliche Konstellation zeigte sich Fromm und seinen Zeitgenoss:innen?

Zeitenwende, Atomkriegsgefahr und irrationale Außenpolitik – der historische Kontext der „Revolution der Hoffnung“

Die 1960er Jahre waren eine weltökonomische und weltpolitische Zeitenwende, die beide mit der beginnenden ersten relativen Schwächung der US-amerikanischen Hegemonie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges innerhalb des westlichen Blockes verbunden waren. Ökonomisch bedeutsam war nicht nur der Aufstieg Deutschland und Japans, der ehemaligen feindlichen Achsenmächte (des Zweiten Weltkrieges), in der Weltwirtschaft, sondern insbesondere der langsame Übergang der US-amerikanischen Ökonomie von einer Gläubiger- in eine Schuldnernation, an dessen Ende zu Beginn der 1970er Jahre auch die Aufkündigung des multilateralen Weltwährungssystems von Bretton Woods stand. Doch diese scheinbare Schwächung des US-amerikanischen Kapitalismus verwandelte sich schon bald in eine (neue) „Stärke“, indem nämlich die „Globalisierung“ erfunden wurde. Historische Forschungen der Globalen Politischen Ökonomie, einer lange Zeit in Deutschland zu Unrecht unbekannten Forschungsrichtung innerhalb der Disziplin der Internationalen Beziehungen, zeigen recht eindeutig, dass – paradoxerweise – die Krise des US-amerikanischen Kapitalismus im Inneren mit seinem Siegeszug nach außen nicht nur einherging, sondern jene von diesem wesentlich „verursacht“ wurde: die Globalisierung der Finanzmärkte und die Transnationalisierung (zunächst) US-amerikanischer Konzerne durch den Aufbau globaler Wertschöpfungsketten waren die Insignien der weltökonomischen Zeitenwende (Hoogvelt 1997; Held et al. 1999; Beck et al. 2002; Altvater/Mahnkopf 2007; Panitch/Gindin 2012).

Weltpolitisch war der zeitdiagnostische Kontext Fromm’scher Politisierung von einem manifesten Kalten Krieg geprägt, der – paradoxerweise – im Westen, folgt man der Überzeugung Eric J. Hobsbawms, gerade wegen der „kommunistischen Gefahr“ mit einem „Golden Age of Capitalism“ einhergegangen war (Hobsbawm 1998). Die „Systemkonkurrenz“(Deppe 1991) zwischen Kapitalismus und dem realsozialistischen Staatensystem, das Erich Fromm in der TV-Sendung von Mike Wallace im Jahr 1958 – und dabei ganz in der Tradition der Kritischen Theorie stehend – als „Staatskapitalismus“ bezeichnete, um seinen „humanistischen Sozialismus“ hiervon abgrenzen zu können, prägte die Welt, und sei es auch nur indirekt vermittels der sog. Emanzipation der „Dritten Welt“, die sich zwischen diesen weltpolitischen Konstellation strategisch intelligent zu positionieren versuchte. Vor diesem Hintergrund stach die Berlin-Krise 1961 ins historische Auge, standen die Kuba-Krise des Jahres 1962 und der offzielle Eintritt der USA in den schon lange schwelenden Bürgerkrieg in Vietnam, wo sich – einem Brennglas gleich – der westliche Kapitalismus und der „östliche“ Kommunismus gegenüberstanden, im Zentrum der Verwerfungen (Chomsky 2020; Greiner 2013). Jenseits der Systemkonkurrenz waren die 1960er und die (frühen) 1970er Jahre zudem von Auseinandersetzungen um eine „Neue Internationale Arbeitsteilung“ geprägt, in der zahlreiche Länder des sog. „Trikont“ sich nicht nur endgültig von ihrer kolonialen Unterwerfung politisch befreien wollten, sondern – als Eigentümer von zentralen Ressourcen, unten ihnen natürlich vor allem Erdöl – einen größeren Anteil am global produzierten Mehrwert verlangten (vgl. diverse Beiträge in Nohlen /Nuscheler 31995).

Diese weltpolitischen und weltökonomischen Verwerfungen hatten – neben den revolutionären Bewegungen in vielen Teilen der „Dritten Welt“ – auch in den USA (und in den europäischen Gesellschaften) gesellschaftspolitische Auswirkungen (Deppe 2003/2016; 2018). Einerseits „entdeckte“ die saturierte Wohlstands- bzw. nivellierte Mittelklassengesellschaft gewissermaßen Armut, Arbeitslosigkeit, Sexismus und Rassismus als ihr lang verdrängtes Inneres und wurde andererseits mit Ansprüchen des nicht weniger verdrängten Äußeren, der Realität von Ressourcen liefernden, d.h. ausgebeuteten Ökonomien und kolonisierten Ländern jenseits des saturierten Nordens konfrontiert. Diese weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Verwerfungen führten zur Entstehung einer Antikriegs-, Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegung, die oft neben sozialistischen Forderungen auch antiimperialistische und feministische Zielsetzungen aufnahm und für das Selbstbestimmungsrecht der (verdrängten Völker im Äußeren) genauso eintrat wie für mehr soziale Gerechtigkeit (für die verdrängten Klassen im Inneren) und gleiche Rechte für marginalisierte sozialen Gruppen im Inneren. Beide Forderungen, nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker einerseits und den umfassenden Menschenrechten für alle Männer und Frauen auf dem Planeten anderseits, die im System der Vereinten Nationen verankert waren, wurden weltpolitische und weltökonomische Anküpfungspunkte der aufstrebenden sozialen Kräfte. Zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg trat gewissermaßen der prozessierende Widerspruch von (globalen) Verfassungsnormen und (globaler) Verfassungswirklichkeit in das Bewusstein vieler Menschen auf dem sich globaliserenden Planeten. Insbesondere die Ausbreitung sozialistisch argumentierender Befreiungsbewegungen, die zum Teil von China, zum Teil von der Sowjetunion unterstützt wurden, und vor allem die aktiv avisierten antikommunistischen Strategien des „Westens“ gegen jene „Befreiungen“ ließen den Kalten Krieg in ihrem „Fahrwasser“ bzw. an ihren Rändern langsam „heiß“ werden (Hobsbawm 1998: Teile II und III).

Vor diesem nur sehr schlagwortartig erhellten historischen Hintergrund beginnt der Sozialphilosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm, sich in die politischen und intellektuellen Debatten in den USA einzumischen (Friedman 2013: 291-378). In „Wege aus einer kranken Gesellschaft“ (erschienen: 1955) legte er erstmalig für die breite Öffentlichkeit Überlegungen für einen „sozialistischen Humanismus“ vor und bringt im Jahr 1965 ein umfangreiches internationales Kompendium unorthodoxer linker Intellektueller heraus, das als Symposium für einen „humanistischen Sozialismus“ (Fromm 1965) fungierte. Nach dem Tod Stalins und dem Übergang der Führungsmacht zu dem neu gewählten Generalsektretär der KPdSU, Nikita Chrutschow, versucht er der geneigten Leserschaft in Nordamerika deutlich zu machen, dass die Sowjetunion keine Diktatur (mehr) ist und keineswegs auf eine Eroberung des „Westens“ aus sei, sondern vielmehr als ein konservativer Polizeistaat zu betrachten sei, der keine Expansionsinteressen habe (was nicht weniger unattraktiv, aber immerhin eine umwälzende Einschätzung der Sowjetunion in den 1960er Jahren in den USA war).

Er versuchte – mutig und als Nicht-Politiker und als ausgewiesener Nicht-Experte auf den politischen Feldern ziemlich waghalsig – gegen die antikommunistische und – wie er zurecht meinte – paranoide Einschätzung der außenpolitischen Interessen des kommunistischen Staats in der US-amerikanischen Öffentlichkeit anzuschreiben und Prinzipien für eine „rationale Außenpolitik“ zu begründen (Fromm 1962). Im Jahr 1968 schließlich entschließt er sich, indirekt für einen demokratischen Präsidentschaftskandidaten (der aber in den Primaries der Demokraten scheiterte), nämlich Senator Eugene McCarthy, ein Buch zu veröffentlichen, welches die „Revolution der Hoffnung“ im Titel trägt und Anstöße geben will, damit eine gesellschaftliche Transformation in Richtung einer „humanen Gesellschaft“ möglich wird. Es ist kein umfassendes politisches Programm und enthält auch keine unmittelbar umsetzbaren Politikvorschläge. Dennoch werden allgemeine Reformideen beschrieben, die zum Teil unverkennbar dem US-amerikanischen politischen Kontext, zum anderen Teil dem Ideenraum eines „demokratischen Sozialismus“ (Sassoon 1997: ) entstammen und die im Zuge der (globalen) 1968er-Kulturrevolutionen und ihren historischen Folgen einen gewissen Bekanntheitsgrad erhielten (Deppe 2018). Warum, so die Leitfrage des Beitrags, hält Erich Fromm eine „Revolution der Hoffnung“ für nötig und wo kann sie ansetzen? Welchen Bezug hat sie zu seinen sozialphilosophischen und sozialpsychologischen Analysen aus den Jahrzehnten davor? Was – überhaupt – bedeutet sie inhaltlich? Vor der Erörterung seiner „Reformvorstellungen“ steht jedoch die Krisenanalyse, so dass ich zunächst auf die Gesellschaftskritik von Erich Fromm eingehen, dabei aber auch versuchen werde, ihre Kritiken an die heutigen Debatten um eine für notwendig erachtete „Nachhaltigkeitsrevolution“ (Dörre 2021) zurückzubinden.

Hoffung, Glaube, Revolution: für eine humane Gesellschaft und rationale Politik des sozialistischen Humanismus

Die prophetischen Warnungen Erich Fromms vor der wechselseitigen atomaren Zerstörung einerseits sowie seine eher kursorischen Ausführungen zur Zerstörung der Umwelt andererseits wurzeln beide in seiner radikalen Gesellschaftskritik. Diese zielt seit seinem Buch über „Wege aus einer kranken Gesellschaft“ auf eine Kritik der (staats-)kapitalistischen Industriegesellschaft(en), womit nicht nur der „kapitalistische Westen“, sondern auch die realsozialistischen Herrschaftssysteme gemeint waren, die Fromm in (vermuteter) Anlehnung an grundlegende Studien von Friedrich Pollock aus dem Zusammenhang des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt a.M. in seinem Buch „Es geht um den Menschen“ (1961) als „Staatskapitalismus“ oder auch „Staats-Managertum“ bezeichnete (Fromm 1992: 44; GA : ).1 Es sollte erwähnt werden, dass Fromm in Hinsicht auf die liberalen Freiheitsrechte das Stalin’sche Herrschaftssystem als Totalitarismus und das Chruschtschow’sche System als reaktionären Polizeistaat beschrieb, während in den USA und in manchen europäischen Staaten – immerhin – demokratische Verfassungen in Kraft waren. Allerdings existierten zu seiner Zeit noch zahlreiche Diktaturen in der Welt, auch in Europa und Südamerika, mit denen der „Westen“ aus antikommunistischen Motivationen heraus kooperierte. Von einem „Sieg der Demokratie“ – lauthals nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Staatenssystems verkündet – konnte zu Fromms Zeit also noch überhaupt keine Rede sein. Fromm war sich der halbierten Demokratien in den Staaten des westlichen Kapitalismus sehr bewusst. Wenn der britische Soziologe Colin Crouch in jüngster Zeit also in seinen Büchern über die Postdemokratie (2003, 2011, 2014, 2021) oder auch Wolfgang Streeck (2013, 2022) in seinem Abgesang auf das Modell Deutschland und den europäischen Konsolidierungsstaat rückblickend in dem Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg gewissermaßen den Höhepunkt der „demokratischen Erzählung“ erblicken, bricht sich diese rückblickende Idealisierung jener Zeit(en) doch sehr an den realhistorischen Bedinungen und kritischen Ansichten der Fromm’schen Analyse in den 1960er und 1970er Jahren.2

Erich Fromms Kritik an dem Bürokratismus und Konformismus des rigiden Wohlstandskapitalismus (gewissermaßen in West und Ost) liest sich auf den ersten Blick wie eine bloße „Künstlerkritik“ an den „formierten Gesellschaften“ jener Zeit, um an ein ideologisches Leitkonzept der Regierungszeit unter dem Bundeskanzler Ludwig Erhard zu erinnern.3 Doch eine solche Reduktion der Fromm’schen Gesellschaftskritik auf den diagnostitizierten Mangel an Autonomie, Kreativität und Aktivität im Leben der Menschen im Fordismus wäre nicht zutreffend. Neben diesen unzweifelhaft vorhandenen Elementen der Gesellschaftskritik enthält Fromms Werk nicht nur eine Kritik an den sozialen Bedingungen, unter denen die Menschen arbeiten und leben müssen, sondern auch ein ganzes Tableau von sozialistischen Elementen, die auf die politisch-ökonomische Transformation der kritisierten (staats-)kapitalistischen Industriegesellschaften zielten. Darüber hinaus war Fromm in den USA auch als öffentlicher Intellektueller sehr präsent und versuchte, seine Kontakte sowohl für programmatische als auch politisch-aktuelle „Beratungstätigkeiten“ – so nennen ich es mal – zu nutzen. Dieser „politische Fromm“ ist in Deutschland ziemlich unbekannt, denn hier wurden seine Publikationen – vollumfänglich – erst ab Mitte/Ende der 1970er Jahre veröffentlicht, so dass sich die politische Brisanz der Originalbeiträge aus den 1950er und 1960er Jahre dadurch naturgemäß verliert.4

Zudem wurde – wie angedeutet – vor allem die „Künstlerkritik“-Seite von Fromm rezipiert; und das vor allem aus Gründen vorliegender gesellschaftspolitischer Diskurse und weniger wegen der systematischen Vernachlässigung der „Sozialkritik“ in den analytischen und politischen Schriften von Erich Fromm. Doch auch eine Reduktion auf Künstler- und Sozialkritik im Sinne Boltanski/Chiapellos (1993) empirischer Unterscheidung ist unzureichend. Fromm hatte eine dezidiert ethische Kritik an den industrialisierten Gesellschaften und der Internationalen Politik seiner Zeit. Er verstand sich als „Warner“ vor gefährlichen Entwicklungen in Politik, Ökonomie und Gesellschaft. Oftmals wurde er daher von (auch ihm wohl gesonnenen) Zeitgenoss:innen als „Prophet“ kritisiert. Genau darin bestand (und besteht) aber die Aufgabe von öffentlichen Intellektuellen: vor menschheitsgefährdenden und inhumanen Entwicklungen zu warnen. Ist das nicht auch die (selbst ernannte) Aufgabe so mancher Klimaforscher:innen? Ich komme auf diese Frage noch zurück, möchte aber kurz einige Analysebausteine des „politischen Fromm“ etwas erhellen. Was ist die Verbindung zwischen Fromms radikaler Gesellschaftskritik und dem Klimawandel, dessen Bewältigung dieser Generation als letzte Chance aufgegeben ist? Es sind vier Aspekte, die ins Auge springen: (i) seine Warnung vor einer existenziellen Bedrohung (nukleares Armageddon), (ii) seine Kritik einer dehumanisierenden Technik, (iii) seine oft missverstandene Kapitalismuskritik und (iv) sein Plädoyer für eine sozialistische Transformation des bürokratischen (Staat-)Kapitalismus.

Diese Kritikpunkte schauen wir uns zunächst in ihren historischen Kontexten an, in denen sie entstanden sind, bevor wir deren Bedeutung im Hinblick auf die höchstaktuelle Gefahr der „Selbstverbrennung“ (Schellnhuber 2015) des Menschen durch die globale Erwärmung bzw. den Klimawandel erörtern. Es lassen sich in der Diskussion der Fromm’schen Krisenanalyse vier Erklärungsmodelle destillieren, warum eine nachhaltige Gesellschaft noch nicht erreicht ist. Diese spekulativen Ideen werden in diesem Abschnitt behandelt, bevor im abschließenden Abschnitt dieses Beitrags das Transformationsmodell beschrieben wird, nach dem sich die (post-)industrielle Gesellschaft in einen „humanistischen Sozialismus“ entwickeln sollte. Eine Reflektion dieser Modelle für die Problematik der Nachhaltigkeitskrise zeigt, dass die Fromm’schen Überlegungen – wenn auch nicht in systematischer Hinsicht, aber in ihrer grundsätzlichen Heuristik – für eine Analyse der Nachhaltigkeitskrise hilfreich sind. Es sind dies:

  1. Das Psychopathologie-Modell,
  2. das Propaganda-Modell,
  3. das Technik-Modell und
  4. das Kapitalismus-Modell der ausbleibenden Transformation in eine „Nachhaltigkeitsgesellschaft“ (Neckel 2020; Blühdorn 2022) oder „Nachhaltigkeitsrevolution“ (Dörre 2021) sowie
  5. das Transformationsmodell in einen humanistischen Sozialismus.

Nukleare Vernichtung, globale Erwärung … und zurück?

Erich Fromm betrachtete die gegenseitige nukleare Aufrüstung der USA und der Sowjetunion seit den 1950er Jahren als eine große Bedrohung des Weltfriedens und der Überlebensmöglichkeit der gesamten Menschheit. Diese Gefährlichkeit wurde noch dadurch verstärkt, dass sowohl die Rhetorik der Politik sehr aggresssive und (be-)drohende Formen annahm als auch dadurch, dass Prinzipien einer rationalen (Außen-)politik – wie Fromm meinte – missachtet wurden und zu zahlreichen Konflikten zwischen den Parteien beitrugen. Diese Prinzipien einer rationalen (Außen-)politik legte er in seinem Buch „Es geht um den Menschen“ aus dem Jahr 1961 fest, also kurz vor der frühen „Doppelkrise“ der Systemkonkurrenz der gegeneinander gerichteten Machtblöcke: (i) der Berlin-Krise von 1961 und (ii) der Kuba-Krise von 1962. In grundlegenden Überlegungen zu einer Politischen Psychologie der US-amerikanischen Außenpolitik unterschied er zwischen einem „pathologischem Denken“ und einem nicht weniger problematischen „Doppeldenken“ in der außenpolitischen Wahrnehmung der und den damit zusammenhängenden Strategien gegen die Sowjetunion in der US-amerikanischen Gesellschaft (Fromm 1992: 24ff.; GA : ). In einer modifizierten Analogie zur Individualpsyhopathologie (seiner Zeit) differenzierte Fromm pathologisches Denken in der (Außen-)Politik in drei Unterkatageorien: (a) paranoides Denken, (b) projektives Denken und (c) fanatisches Denken. Im Gegensatz zur Individualpathologie werden diese Denkformen typischerweise von einer größeren Gruppe bis zur Mehrheit einer politischen Gesellschaft praktiziert und sind daher schwerer zu erkennen. Der „Widerstand“ gegen Einsichten aus verdrängten Strebungen und Leidenschaften eines psychopathologischen Einzelnen, ist dabei auch in der politischen Öffentlichkeit vorhanden:

Diese „Hindernisse beruhen keineswegs auf intellektuellen Mängeln oder fehlender Information. Sie beruhen vielmehr auf emotionalen Faktoren, die unsere Denkinstrumente derart stumpf machen oder verformen, daß sie zur Erkenntnis der Wahrheit nicht mehr taugen. In jeder Gesellschaft sind sichdie meisten der Existenz dieser Verformung nicht bewußt. Sie bemerken eine Entstellung nur dann, wenn es sich um eine Abweichung von der Einstellung der Mehrheit [hinzuzufügen wäre hier: der peer-group, KM ] handelt.“

Fromm 1992: 25; GA : .

Fromm geht hier notwendigerweise von der Erkenntbarkeit oder wenigstens der Näherung an die „Wahrheit“ aus, so dass rationale, wissenschaftliche Erkenntis als Voraussetzung einer Ideologiekritik angesehen und für möglich gehalten wird. Dennoch ist sie nicht einfach zu erkennen, denn eine „realistische“ Auffassung von der gesellschaftlichen Realität ist ohne wissenschaftlich begründete Skepsis und einen Grad der Einschätzung des „Charakters“ der eine Position äußernden Person nach Fromms Ansicht schwierig. Fromms wissenschaftstheoretische Position ist hier uneindeutig. Einerseits will er auf den „Wahrheitsbegriff“ nicht verzichten, erkennt aber andererseits an, dass wissenschaftliche Erkenntnis sich letztlich in ihrem Fortschreiten nicht aus sich selbst heraus entwickeln kann, sondern auch des „Glaubens“ an eine Hypothese gebunden ist. Obwohl Fromm hier keineswegs einen Wertrelativismus vertritt, nähert sich seine wissenschaftstheoretische Position doch einem gewissen Erkenntnisrelativismus an, ohne jedoch in „anything goes“ (Feyerabend) zum münden. Der kritische Realismus wäre zweifellos eine mit Fromms Vorstellungen vereinbare wissenschaftstheoretische Position (Sawyer 2010,2011). Im Folgenden wäre also vorauszusetzen, dass eine kritisch-wissenschaftliche Erkenntnis über (gesellschafts-)politische Sachverhalte – trotz interpretativer „Unschärfen“ – möglich ist.

Vor diesem Hintergrund wird paranoides Denken – als erste Form pathologischen Denkens – von Fromm derart bestimmt, dass allein die logische Möglichkeit von Handlungsmotivationen und -strategien von „Rußland“ oder „Chrutschtschow“ (ebd.: 27; GA: ), die USA bzw. den Westen vernichten zu wollen, für „wahr“ gehalten wird, ohne dass die „Wahrscheinlichkeit“ eines solchen – theoretisch möglichen – Ereignisses überprüft würde: „Wenn wir nur an die Möglichkeiten denken“, so Fromm weiter, „haben wir in der Tat keine Chance für ein realistisches und vernünftiges politisches Handeln.“ (Ebd.) Diese Denkfigur ist uns allen aus verschiedenen Problemfällen bekannt. Sie ist die Grundlage eines unbelegten oder auch unbelegbaren „Verschwörungsdenkens“ (KM), dem man nur damit begegnen kann, „auch Wahrscheinlichkeiten zu erwägen“ (ebd.), dass bestimmte Handlungsziele oder -strategien verfolgt werden bzw. wurden.

Der psychoanalytische Mechanismus der Projektion – die zweite Form pathologischen Denkens in der Politik – basiert darauf, einem politischen Gegner, Kontrahenten oder Feind, alles „Böse“ zuzuschreiben, was in der eigenen Person bzw. sozialen Gruppen, Klasse oder Nation als Menschenmögliches angelegt und auch selbst verfolgt, aber verdrängt wird. Diese „Dämonisierung“ des Gegenüber ist nicht nur meist falsch und undifferenziert, sondern geht bei dem projezierenden Kolletiven mit einer „unkritische(n) narzißtische(n) Selbstglorifizierung“ (ebd.: 28; GA : ) einher. Die Folge ist oftmals eine „allgemeine Manie“ und ein „leidenschaftliche[r] Haß“ gegen die dämonisierte Gegegruppe. Die Folge davon ist, eine unrealistische und unkritische Darstellung des politischen Gegners, Kontrahenten oder Feindes, wie es Fromm in der Einschätzung und Bewertung der Sowjetunion in der US-amerikanischen Gesellschaft erkannte. Zwar wurde – zurecht – das Terrorregime Stalins kritisiert, jedoch weder die interne Veränderung der Sowjetunion unter Chrutschtschow erkannt, sondern weiter Klischeevorstellungen bedient, noch die Terrorregime kritisiert, die von den USA unterstützt wurden, nur weil sie ideologisch antikommunistisch agi(ti)erten. Die politischen Folgen sind brandgefährlich:

„Vermischt sich die Projektion mit paranoidem Denken, wie dies während eines Krieges und auch im ‚Kalten Krieg‘ der Fall ist, so haben wir es in der Tat mit einem gefährlich explosiven psychologischen Gemisch zu tun, das ein gesundes und vorausschauendes Denken verhindert.“

Fromm 1922: 29; GA : .

Die dritte Form pathologischen Denkens in der Politk ist für Fromm der Fanatismus. Mit Fanatismus ist nicht ein „tiefer Glaube“ an eine geistige oder wissenschaftliche Überzeugung gemeint, denn ein solcher Glauben, eine Wertüberzeugung, die sich dahinter verbirgt, lässt sich nicht „belegen“ (ebd: 30). Den Fanatiker kann man daher nicht so sehr an „dem Inhalt einer Behauptung“ (ebd.; Hervorhebung i.O.), sondern nur „an gewissen Eigenschaften seiner Persönlichkeit“ (ebd.)erkennen. 6 Der Fanatiker zeigt nach Fromm nicht nur ein „kaltes Feuer“, also „eine Leidenschaftlichkeit, die ohne Wärme ist“, sondern ist auch „ohne Kontakt mit der Außenwelt“; er ist „eine stark narzißtische Persönlichkeit“ (ebd.). Entgegen der „depressiven Persönlichkeit“, die in ihrem Narzissmus gefangen sei, transferiere der Fanatiker seinen Narzissmus auf ein „Idol“, das nicht nur eine konkrete Führungspersönlichkeit, sondern auch abstrakte Konzepte wie „Brüderlichkeit, Gott, Erlösung, Vaterland, Rasse, Ehre und dergleichen zum Inhalt“ (ebd.: 31; GA: ) haben kann. Vielleicht lässt sich sagen: die gesellschaftliche Bewertung des Idols bestimmt den Grad, wie leicht der Fanatismus erkannt werden kann. Teilen viele Menschen in der Gesellschaft das Idol, kann der Fanatiker seinen Fanatismus unter „seinem gefälschten Glauben und Gefühl“ (ebd.) verstecken. Die pathologischen Formen des Denkens sind also höchst problematisch, wenn es darum geht, rationale Prinzipien der Politikformulierung und rationale Strategien zu entwickeln.

„Paranoides, projektives und fanatisches politisches Denken sind im wahren Sinne pathologoische Denkformen, die sich von der Pathologie im herkömmlichen Sinn nur durch die Tatsache unterscheiden, daß politische Gedanken nicht auf ein oder zwei Individuen beschränkt sind, sondern von einer größeren Gruppe von Menschen geteilt werden.“

Fromm 1992: 31, GA : .

Neben dem pathologischen Denken, das in psychologischen Mechanismen wurzelt, sieht Fromm noch eine weitere Form irrationalen Denkens in der Politik, die weniger in psychopathologischen Prozessen, sondern in gesellschaftlichen Entwicklungen der „moderne[n] Manipulation des Denkens“ (ebd.: 32) entspringt und mit politikwissenschaftlichen Konzepten eines politischen Marketing und einer politischen Propaganda zusammenhängt (vgl. grundlegend auch: Herman/Chomsky 1994).7 Die Folge solcher Manipulationsstrategien, deren Bedeutung im Zeitalter sozialer Medien wohl kaum noch unterschätzt werden kann, ist ein „automatenhafte[s] Denken“ (ebd). Dieses komme dadurch zustande, dass die Denkinhalte vorgegeben werden und nicht auf „eigenes Nachdenken “ zurückgehen, „welches sich auf eigene Beobachtung und Erfahrung“ (ebd.) gründe. Fromm unterstellt in der Folge der Akzeptanz der offiziellen Klischeedarstellungen bestimmter Eigenschaften des politischen Gegners ein „Doppeldenken“ (in Anlehnung an George Orwells „1984“), mit dem bestimmte Strategien und Positionen im eigenen Land für unproblematisch gehalten werden, die im anderen Land kritisiert werden. Der Frommpreisträger Noam Chomsky hat diesen „Doppelstandard“ US-amerikanischer Außenpolitik seit Jahrzehnten offen gelegt (z.B. Chomsky 52019). Die Bloßleger von Doppelstandards werden oft in Ihrem „Heimatland“ als „Nestbeschmutzer“ oder heimliche Agenten des Gegners / Feindes dargestellt – ein politischer Mechanismus, der uns nach Irak- und Ukraine-Krieg nicht allzu unbekannt vorkommen mag. Fromms Schlussfolgerungen hinsichtlich der „Problemlösungsfähigkeit“ dieser psychopathologischen und propagandistischen Mechanismen sind eindeutig und anregend – gerade auch für die Bewertung der ausbleibenden Nachhaltigkeitstransformation in der Klimadebatte:

„Pathologisches Denken und Doppeldenken sind nicht nur krankhaft und unmenschlich, sie gefährden auch unser Überleben. In einer Situation, in der eine falsche Beurteilung katastrophale Auswirkungen haben kann, können wir uns pathologisches oder klischeehaftes Denken einfach nicht mehr leisten. Ein möglichst klares, realistisches Denken über die Weltlage, besonders in bezug auf den Konflikt zwischen den Großmächten wird zu einer Sache von vitaler Notwendigkeit.“

Fromm 1992: 34; GA : .

Nun ist es tatsächlich eine Sache, grundlegende Mechanismen irrationalen Denkens in der Politik aufzuzeigen, aber eine ganz andere, diese Konzepte empirisch überzeugend anzuwenden. Fromm (1992) beschrieb in seinem Buch, „Es geht um den Menschen“, die Veränderungen und Entwicklungen in der Sowjetunion in dem Hoffen, die Menschen in den USA davon zu überzeugen, dass eine Strategie der nuklearen Abschreckung und erst recht des Erstschlags, ja der Einkalkulation der Führbarkeit eines Atomkriegs nicht nur unmenschlich ist, sondern aufgrund der Entwicklungen in der Sowjetunion unter Chruschtschow auch völlig unnötig, da gegenstandslos.8 Gibt es eine ähnliche „irrationale Politik“ in der internationalen Klima- und Umweltpolitik, die den Nicht-Fortschritt und das Ausbleiben einer „Nachhaltigkeitsrevolution“ (Dörre 2021; Blühdorn 2022) zu erklären vermag?

Zunächst jedoch eine methodologische Vorbemerkung: ein analytisches Problem mit den Konzepten der Politischen Psychologie Fromms ist zunächst, dass sie nicht trennscharf sind, sondern ganz offensichtlich – zumindest teilweise – ineinander greifen bzw. ihre begrifflichen Beziehungen zueinander nicht ausreichend geklärt werden. Der Begriff des projektiven Denkens beispielsweise ist deutlich mit dem Konzept des „automatenhaften Denkens“ verbunden, insofern letzterer den Begriffsinhalt des ersteren (nicht die Neigung dazu) vermittels „modernen Manipulationstechniken“ hervorzubringen vermag. Auch das paranoide Denken und der Fanatismus lassen sich wohl kaum im empirischen Einzelfall von den Mechanismen des Doppeldenken abtrennen. Daher sind die Fromm’schen Konzepte als empirische Idealtypen und nicht unbedingt als analytische Konzepte zu behandeln. Ihre analytische Grundlegung erhalten sie in den Grundsätzen und Konzepten seiner analytischen Sozialpsychologie, deren Details hier nicht dargestellt werden können (vgl. hierzu: Fromm 2019). Kombiniert man die Fromm’sche Politische Psychologie nun mit politikwissenschaftlichen Ansätze einer Adovakten- bzw. Diskursgemeinschaft von Paul Sabatier (1993, 2007) bzw. Maarten Hajer (1995, 2003) lässt sich jenseits der psychopathologischen Prozesse ein weiteres wichtiges Konzept einfügen, welches bei Fromm implizit zwar angedacht und in der empirischen Analyse des Sowjetsystems auch inkludiert ist, aber als begriffliches Moment bei seinen Konzepten nicht expliziert wurde, aber zur Analyse von politischen Prozessen unerlässlich ist: der Begriff des Herrschafts- oder Machtinteresses. Legt man diese als bedeutsam für politische Akteure zugrunde, lassen sich die oben genannten psychopathologischen Mechanismen (paranoides, projektives und fanatisches Denken) auch durch strategisch agierende populistische Politikakteure im Rahmen von medialen und diskursiven Manipulationsstrategien einsetzen (Mosebach 2018, 2019; Mausfeld 2020). Paul Sabatier und Maarten Hajer haben darüber hinaus in ihren Politikanalysen gezeigt, dass es selbst in der Umweltpolitik – und damit auch auf nationaler Ebene und zwischen nationalen Kollektivakteuren – zu Prozessen der sozialen Schließung von Advokaten- und Diskursgemeinschaften kommt, die in gemeinsam geteilten Werten, Normen und narrativen Story-Lines wurzeln und die jeweils andere Advokaten- oder Diskursgemeinschaft oftmals als politische Gegner und gelegentlich auch Feinde „perhorreszieren“. Paul Sabatier spricht diesbezüglich von einem „Devil-Shift“, mittels dessen die gegnerische Position als „teuflisch“ dargestellt wird und entsprechende – ggf. auch gewaltsame – (Inter-)Aktionen nach sich zieht, wenn er auch die Genese von Diskursgemeinschaften nicht erklären kann (Mosebach i.E.).

Die von Fromm beschriebenen psychopathologischen und propagandatheoretischen Mechanismen können dabei als wesentliche Mechanismen integriert werden. Diskurse, Narrative oder auch Story-Lines begründen zwar nicht psychopathologische Mechanismen, wohl aber deren substanziellen Inhalte. Dabei ist auch wissenssoziologisch anerkannt, dass Diskursakteure unterschiedliche Machtressourcen haben, den gesellschaftlichen Diskurs zu beeinflussen, ohne ihn vollständig kontrollieren zu können (Jäger 2004; Keller 2005). Interessen sind dabei nicht „materialistisch“ vorgegeben, sondern werden in dieser analytischen Matrix aus Ideen, Institutionen, Intrigen und „Instinkten“ konfiguriert (zum Interessenbegriff: Scharpf 2000; Hay 2002; Lessenich 2003; Schmidt 2003). Lassen sich nun in der Klima- und Nachhaltigkeitsdebatte mittels dieser Mechanismen soziale Prozesse identifizieren, die mit den beiden Fromm’schen Modellen der Verhinderung einer nachhaltigen Gesellschaft besser verstehbar sind? Ich möchte im Folgenden vier Thesen aufstellen, die die analytische Fruchtbarkeit und Aktualität der Fromm’schen Politischen Psychologie anhand einiger Aspekte des Klimadiskurses aufzeigen wollen, indem sie Ansatzpunkte angeben, warum die Transformationen auf eine nachhaltige (Welt-)Gesellschaft ausbleiben, ohne zu behaupten, dass die konzeptionellen Grundlagen der Modelle nicht in der einen und anderen Weise stärker auszuarbeiten oder auch zu ergänzen wären.9 Vorauszusetzen ist: aufgrund der Tatsache politischer, kultureller und vor allem ökonomischer Globalisierungsprozesse ist eine Nachhaltigkeitsrevolution in Bezug auf ihre räumliche Dimension notwendigerweise global, wenn sie auch „vor Ort“ realisiert werden muss (grundlegend: Altvater/Mahnkopf 2007). Die alte ökologische Überzeugung, dass das Globale lokal (=glokal) ist, ist folglich weiterhin zutreffend:

Die (Hypo-)Thesen zum Verständnis ausbleibender Transformationsprozesse sind:

  1. Paranoides Denken in der Klimadebatte zeigt sich zum einen darin, dass manche Menschen und politische Akteure (vor allem, aber nicht nur, auf dem rechten politischen Spektrum) davon überzeugt sind, dass die These vom anthropogenen Klimawandel ein politisches Umverteilungsprojekt einer Koalition aus Politiker:innen, Wissenschaftler:innen und Unternehmer:innen ist, bestehende als „nicht-nachhaltig“ bewertete Produktions- und Konsumptionsstile zu beseitigen und damit die betroffenen Personengruppen gesellschaftlich zu entwerten und zu deklassieren. Das bedeutet im Übrigen nicht, dass es nicht zu Umverteilungen kommen wird – das ist bei einer solchen gesellschaftlichen Transformation unvermeidbar -, aber diese ist nicht das genuine Ziel der Akteure (schlimmstenfalls: in Kauf genommene nicht-intendierte Nebenwirkungen), sondern den anthropogenen Klimawandel in all seinen Folgen verträglich zu gestalten und ggf. in seiner Dynamik zu verlangsamen. Oftmals werden dann von den Menschen, die einem paranoiden Denken anhängen, auch nicht alternative Anpassungsstrategien oder sozialpolitische Abfederungen erkannt, die durchaus angeboten werden, um die Veränderungsprozesse von Produktions- und Konsumptionsformen anzupassen. Der Protest reduziert sich dann oft auf Fundamentalopposition und paranoide Erklärungsmuster, so dass der anthropogene Klimawandel im Endeffekt sogar als „Mythos“ oder „bloße Erfindung“ zum Zwecke von Umverteilungsprojekten apostrophiert wird. Zum anderen ist paranoides Denken darin erkennbar, dass der Klimawandel mit abstrusen Theorien über dessen Genese – außerirdische Wesen etwa – oder aber mit möglichen, aber nachweisbar unbedeutenden Kausalmechanismen (z.B. verstärkte Sonnenaktivität) in Verbindung gebracht wird, so dass eine defätistische Einstellung und ein Verzicht auf Transformationsprozesse von Produktions- und Konsumptionsstilen für realistisch und möglich gehalten wird (vgl. hierzu: Schellnhuber/Rahmstorf 2015; Rahmstorf 2022). Aus einer Fromm’schen Perspektive ist es aber notwendig, diese Menschen mit „paranoidem Denken“ nicht auch noch zu marginalisieren oder sozial zu ächten, sondern aufzuklären und zu überzeugen – so schwer das im Einzelnen auch erscheinen mag. Die Alternativen sind zunehmende soziale und politische Konflikte und ein Stillstand des Transformationsprozesses. Ob Vorschläge, einen klimawandeltauglichen Kriegskommunismus zu verfolgen, wie es der schwedische Klimaaktivist Anderas Malm (2019, 2020) vorschlägt, vor diesem Hintergrund tauglich sind, eine Nachhaltigkeitsrevolution zu vollziehen, ist daher mehr als fragwürdig. Freilich stellt sich die Frage, inwieweit die Gesellschaften bereit sind, diese „Verlangsamung“ des Transformationsprozesses zuzulassen, wenn Ausgleichsmechanismen installiert werden müssen – und das letztendlich sogar auf globaler Ebene (Dörre 2021; AAW 2022).
  2. MIt dem Psychopathologie-Modell wird projektives Denken als weiterer Mechanismus irrationaler Klimapolitik identifiziert. Projektives Denken ist weit verbreitet und keineswegs – so meine These – nur ein „Problem“ von Klimaskeptikern oder ausgemachten Klimawandelleugner:innen. Wie Paul Sabatier und auch Maarten Hajer in ihren Analysen gezeigt haben, ist die oftmals gezielt negative Darstellung gegnerischer Positionen in der Umweltpolitik maßgeblich für die innere Geschlossenheit der Advokaten- und auch der Diskursgemeinschaften. Aus der Perspektive der Fromm’schen Politischen Psychologie stellt sich damit unabwendbar die Frage, inwieweit diese negative Fremddarstellung des politischen Gegners nicht auch Elemente projektiven Denkens enthält. Hypothetisch ließe sich formulieren, dass projektives Denken in der Klima- und Nachhaltigkeitsdebatte vor allem dort vorliegt, wo Produktions-, Konsumptions- und Lebensstile von unterschiedlichen sozialen Gruppen im Hinblick auf ihre „Nachhaltigkeit“ und „Klimatauglichkeit“ gegeneinander aufgerechnet werden, so dass die „eigenen“ Umweltsünden im Vergleich zu den viel größeren Umweltsünden der „Anderen“ gar nicht ins Gewicht fallen. Theologisch gesprochen ist dies ein Fall für das Gleichnis vom Balken und dem Splitter, das Jesus von Nazareth laut den Evangelien der Bibel während der Bergpredigt ansprach (DBG 2019: Luk 6, 39ff.). Projektives Denken liegt auch dann vor, wenn entgegen möglicher wissenschaftlicher Evidenz auf der internationalen Ebene, anderen Staaten (beliebt: USA, Russland oder China) unterstellt wird, sie würden Klima- und Nachhaltigkeitsschutz nicht verfolgen, um ihren Wirtschaftsstandort nicht zu gefährden, um umgekehrt und damit klammheimlich die Dominanz von wirtschaftsbezogenen Überlegungen bei der Umsetzung von entsprechenden Maßnahmen im eigenen Land zu übersehen, zu leugnen oder gerade auch vermehrt einzufordern. Diesem klassisch projektivem Denken ist – in extensiver Interpretation der Fromm’schen Politischen Psychologie – auch noch das Konzept der Übertragung hinzuzufügen, das eine „Variante“ projektiven Denkens darstellt. Hier werden nicht so sehr das eigene „Böse“ oder auch gesellschaftlich negativ bewertete „Eigenschaften“, die beide verdrängt sind, auf einen Gegenüber projeziert, sondern gewisse Wünsche und Erwartungen auf eine erhöhte und idealisierte Figur übertragen (Fromm 1969/GA : 7.394 [Ebook]). Zu Übertragungssituationen in der Klimapolitik kommt es zum einen, wenn von bestimmten Politikprogrammatiken und Politiker:innen „Lösungen“ erwartet werden, ohne dass eigene Veränderungen oder Anpassungen in Erwägung gezogen werden. Die Folge von solchen Verschiebungen der Verantwortung auf Dritte ist die Blockade klimapolitischer Maßnahmen gemäß dem Motto: „Not in my Backyard!“ Zum anderen sind Übertragungssituationen in umgekehrter „Richtung“ vorhanden, wenn Protest gegen Maßnahmen auf starke Persönlichkeiten übertragen wird, die versprechen, diese Maßnahmen zu verhindern – mit anderen Worten: das Übertragungsphänomen ist ein wesentliches Merkmal des strukturellen und autoritären Populismus (Mosebach 2018, 2019).
  3. Fanatisches Denken ist das wohl am schwierigsten zu identifizierende Denken in der Fromm’schen Politischen Psychologie. Da es sich nicht im Kern dadurch auszeichnet, dass es an einem empirisch belegbaren „Glauben“ an eine Idee, Leitprinzip etc. erkennbar ist, sondern dem persönlichen Charakter des Einzelnen im Umgang mit diesem „Glauben“ entspringt, dürfte seine (unstrittige) Identifikation als psychopathologisches Merkmal in der Klimadebatte äußerst kontrovers sein. Während fanatisches Denken mit einer differenzierten wissenschaftlichen Perspektive auf den Prozess der „Selbstverbrennung“ (Schellnhuber 2015; siehe auch: Schellnhuber/Rahmstorf 2015) unvereinbar ist, mag es – hypothetisch gesprochen – in zwei Bereichen einzelne Elemente fanatischen Denkens geben, die stark von einer Idolarisierung von gesellschaftlichen und politischen Prozessen geprägt sind. Einerseits erscheinen die – auch gewaltförmigen oder auch „nur“ Gewalt androhenden – Proteste gegen vermeintliche „Verursacher“ oder auch „Erfinder“ des anthropogenen Klimawandels, die engagierten Klimawissenschaftler der IPCC-Community, wie ich sie nennen möchte, wie eine Vermischung von paranoidem Denken und fanatischem Denken in den Gruppen der harten Klimaleugner und Klimamaßnahmengegner. Andererseits lässt sich fanatisches Denken jedoch – und nun begebe ich mich auf „dünnes Eis“ – auch in der Szene der Klimafundamentalisten entdecken, wenn die harten Maßnahmen, die manche Politiker:innen zur Auflösung nicht-nachhaltiger Produktions- und Lebensstile fordern, nicht nur von diesen, sondern auch von ihren politischen Unterstützungsgruppen mit „Härte“ gefordert werden. Auch beim fanatischen Denken befinden wir uns also in jenem Prozess des „Devil-Shifting“ (Sabatier/Weible 2007) gegeneinander aufgestellter Advokaten- und Diskursgemeinschaften, zwischen denen ein lebensfähiger Kompromiss unmöglich erscheint. Die möglichen politischen Konsequenzen eines solchen Kommunikationszusammenbruchs zwischen Akteuren der „Sozialkritik“ und der „Ökologiekritik“ bringt der Jenaer Soziologe Klaus Dörre (2021: 106) glasklar auf den Punkt: „Nutznießer können dann politische Kräfte sein, die, wie die radikale Rechte, menschengemachten Klimawandel leugnen und die Nachhaltigkeitsagenda als Ausweis eines Komplotts globaler Eliten betrachten, die angeblich gezielt daran arbeiten, nationale wie regionale Identitäten mithilfe einer ‚One-World-Ideologie‘ zu zerstören.“
  4. Das Propaganda-Modell der Fromm’schen Politischen Psychologie schließlich unterstreicht die hypothetische Bedeutung manipulativer Politikkommunikation. Nach meiner Auffassung ist dieses Modell das sprichwörtliche Nadelöhr, durch welches die oben beschriebenen psychopathologischen Modelle „hindurchmüssen“, um klimapolitische Wirkkraft entfalten zu können. Paranoides Denken, projektives Denken und auch fanatisches Denken sind zwar im einzelnen Individuum angelegt – mal mehr, mal weniger -, aber ihre „Anrufung“ gelingt m.E. erst durch jenen Prozess des „automatenhaften Denkens“, der in der – auch gezielten – Manipulation eigenen Denkens wurzelt. Dieses Propaganda-Modell ist in der klimapolitischen Debatte als Einflusskanal abgelehnter Politikvorstellungen omnipräsent und dennoch wieder nur ein Beiwerk jenes grundlegenden Prozesses des „Devil-Shifting“, denn der Prozess der Manipulation wird von beiden Seiten erhoben. Während der Vorwurf einer „Klimawandel-Verschwörung“ globaler Eliten in den Bereich des paranoiden Denkens gehört, ist die strategische Desinformations-Politik der Anti-Klimawandel-Koalition aus rechten Think-Tanks, Wirtschaftsverbänden und großen Unternehmen der Fossilindustrie gut belegt (vgl. z.B. Dunlap/McCright 2012; Klein 2015: 53ff.). Allerdings ist natürlich nicht zu leugnen, dass es auf der globalen Ebene zu einer (versuchten) Koordination nationaler Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitiken kommt (jüngst: COP26), deren Resultate und Argumente in umgekehrter Weise in den Mainstream-Medien resonanzhaft verstärkt werden – unabhängig manch grundlegender wissenschaftlicher Kritik an diesen „Resultaten“. Im Ergebnis spielt das Propaganda-Modell somit auf beiden Seiten des „Devil-Shift“ eine Rolle.

Ziehen wir ein Zwischenfazit: sind diese zwei bislang dargestellten Hypothesen ausreichend, um ein Ausbleiben nachhaltiger Gesellschaften zu erklären? Nein, sie sind es nicht. Aber sie können auf einer psychologischen Ebene erklären, dass und warum manche Menschen dazu neigen, bestimmte Positionen und Personen abzulehnen. Paranoides Denken, projektives Denken (inkl. Übertragungen) und fundamentalistisches Denken allein sind nicht in der Lage, die ausbleibenden Erfolge eines globalen und kollektiven Umsteuerns in der Klimadebatte zu erklären. Sie machen aber verstehbar, mit welchen psychologischen Mechanismen Menschen auf soziale, politische und ökonomische Bedrohungen und Infragestellungen von Überzeugungen, Werten und liebgewonnenen Lebensstilen reagieren können, wenn sie in die Ecke gedrängt werden. Ergänzt werden können die psycholopathologischen Mechanismen Fromms noch um den Gedanken der „Verdrängung“ (bzw. Abwehrmechanismen: Hentschel 2010: 25ff.), den Stefan Lessenich (2016: ) aufbringt, um zu erklären, warum angenommen wird, die Umwelt- und Klimakrise finde im „globalen Norden“ nicht bzw. noch nicht statt, wenn doch tatsächlich „neben uns die Sintflut“ – und zwar in vielen Regionen des „globalen Südens“ – existiere. Verdrängungsprozesse sind also Mechanismen, mit denen es – neben Rationalisierungen und den oben beschriebenen psychopathologischen Mechanismen – gelingen kann, bei Vorhandensein kognitiver Spannungen („kognitive Dissonanz“, Eckardt 2015: 111ff.) diese zu reduzieren, die auftreten, wenn der Zusammenhang zwischen dem eigenen Handeln bzw. den Handlungsbedingungen im „globalen Norden“ mit den katastrophalen Folgen der Externalisierung von Umweltkosten im „globalen Süden“ im Bewusstsein (aktiv; im Gegensatz zu unbewussten Prozessen bei Fromm) ausgeblendet wird. Psychopathologisches Denken würde diese widersprüchlichen Aspekte noch nicht einmal wahrnehmen.10 Doch auch Erich Fromm ist bei diesen psychologischen Mechanismen nicht stehen geblieben, um die irrationale Außenpolitik der USA gegenüber der Sowjetunion zu erklären. Seine Perspektive auf eine „Revolution der Hoffnung“ ging weiter und bezog auch Technik- und Kapitalismuskritik mit in seine Gesellschaftskritik ein. Betrachten wir folglich im weiteren Verlauf die beiden weiteren Modelle: das Technik- und das Kapitalismusmodell und diskutieren wir, ob aus diesen „Modellen“, die für eine frühe Gesellschaftskritik der aufkommenden „kybernetischen Gesellschaft“ geschrieben wurden, für das Ausbleiben der nachhaltigen Gesellschaft etwas gelernt werden kann. Ich werde zunächst die Technikkritik reflektieren und mich dann dem Kapitalismusmodell zuwenden und Fromms Sichtweise mit Positionen in der Klimadebatte, die ähnliche Argumente vortragen, vergleichen.

Kybernetik, Effizienzrevolutionen und technologische Scheinlösungen

Erich Fromm war – entgegen manchen Überzeugungen seiner Kritiker:innen – niemals technikfeindlich, wies aber stets auf das gefährende Potenzial einer dehumanisierenden Technik hin. Seine Kritik zielte auf die Euphorie der 1960er Jahre, politische, ökonomische und soziale Entwicklungen mittels Computermodellen vorhersagen und vor allem entscheiden zu können und diese Entscheidungshoheit auch der „Kybernetik“ zu überlassen. Das Problem, das er darin sah, war weniger der Einsatz dieser neuartigen Kalkulationsmaschinen per se, sondern die Übernahme von existentiellen Entscheidungsprozessen durch diese. Die Simulationsmodelle des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) hätte er folglich niemals abgelehnt, wie er auch die Erkenntnisse der auf Computermodellen beruhenden Studien des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums von Beginn der 1970er Jahre zustimmend rezipiert hat (Fromm 422015: 21ff.; GA IV: ).

Insbesondere kritisierte er die – im Rückblick wahnwitzigen und wegen aktuellen Entwicklungen im neuen Kalten Krieg außerordentlich bedrohlichen – Versuche, Computerkalkulationen darüber anzustellen, wie ein (und sei es nur begrenzter) Atomkrieg erfolgreich geführt werden könnte. Hauptangriffspunkt in „Revolution der Hoffnung“ waren die Überlegungen des US-amerikanischen Futurologen Herman Kahn (1922-1983), der als Militärstratege der RAND-Corporation Kalkulationen darüber durchführte, wie ein nuklearer Krieg überlebt werden könnte. Er ging damit – so Fromms zutreffende Kritik – von der Durchführbarkeit eines Atomkrieges aus. Solches Denken ist für Fromm charakterisiert von einer schizoiden „Spaltung zwischen Denken und Fühlen“ (Fromm 1987: 57; GA IV: ). Der sprichwörtliche Wahnsinn und die Empathielosigkeit der Kalkulationen Kahns wird im folgenden Zitat deutlich, in dem Fromm die Zielsetzungen zusammenfasst und einordnet:

In Kahns Buch über den Atomkrieg“…wird die Frage diskutiert, wie viele Millionen toter Amerikaner noch ‚tragbar‘ wären, wenn man als Kriterium dafür die Möglichkeit nimmt, die Wirtschaftsmaschinerie nach einem Atomkrieg in verhältnismäßig kurzer Zeit wieder so weit neu aufzubauen, daß sie ebensogut oder sogar noch besser als zuvor funktioniert. Die Grundkategorien für diese Art zu denken sind die Zahlen des Bruttosozialprodukts und des Bevölkerungswachstums bzw. -rückgangs, während die Frage nach den menschlichen Auswirkungen eines Atomkriegs – wie Leiden, Schmerz, Brutalisierung und dergleichen – gar nicht erst gestellt wird.“

Fromm 1987: 57; GA IV:

Die kulturellen Gründe für eine solche höchst inhumane Denkweise sieht Fromm in zwei Leitprinzipien der technologischen Gesellschaft begründet: (i) dem Prinzip, „daß etwas getan werden soll, weil es technisch möglich ist“ (Fromm 1987: 48; GA IV: ) und (ii) dass wenn etwas getan wird, dann nach dem „Prinzip der maximalen Effizienz und der maximalen Produktion“ (ebd.: 48; Hervorhebungen in beiden Zitaten i.O.). Der im ersten Leitprinzip zum Ausdruck kommende Technikdeterminismus mag auf den ersten Blick irritieren, stellt aber in der Tat eine reale Gefahr dar. Denn trotz aller ethischen Grenzlinien ist praktisch Alles – und sei es zunächst auf illegale Weise – im globalen Kapitalismus versucht worden, was technisch möglich erschien. Das Klonschaf Dolly, die Klonung von menschlichen Embryos bis hin zur Manipulation der genetischen Struktur von Viren zur Erforschung der Übertragbarkeit auf den Menschen (GAIN-OF-FUNCTION-Technologie), alles freilich nur zum „Schutz“ des Menschen. Doch Fromm macht hier deutlich, dass die technische Möglichkeit die Entscheidungsgrundlagen ethisch neu codiert:

„Wenn man sich erst einmal zu dem Prinzip bekennt, daß etwas getan werden soll, weil es technisch getan werden kann, werden alle anderen Werte entthront und die technische Entwicklung allein wird zur Grundlage der Ethik.“

Fromm 1987: 48; GA IV:

Die Relevanz dieser Überlegungen für die Klima- und Nachhaltigkeitskrise liegt näher als manche denken mögen. Der Hamburger Nachhaltigkeitsforscher und Soziologe Sighard Neckel hat kurz vor der Corona-Pandemie sehr richtig darauf hingewiesen, dass es in den Debatten um die Bewältigung der Klima- und Ökologiekrise zu einer Renaissance einer recht unverblühmten technokratischen Wissenschaftsgläubigkeit gekommen ist. Er spricht von einem „neuen Futurismus“. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk vom 15.12.2019 kommt der Soziologe zu einem Befund, der die kritische Perspektive Fromms aktueller erscheinen lässt, als viele bisher vermutlich dachten:

„So überraschend das klingen mag, aber wenn man mit Klimaforschern spricht, dann wird man mitunter auf den überraschenden Befund stoßen, dass sich auch ein neuer Fortschrittsoptimismus breit macht, weil man der Auffassung ist, dass am Ende letztendlich nur technologische Lösungen eine Bewältigung dieser Probleme bringen können. Und weil man mit einer ziemlichen Selbstsicherheit sagt, dass man über technologische Innovationen es am Ende schaffen würde, wirtschaftlichen Wohlstand und Emissionen voneinander zu trennen.“

Neckel 2019

Natürlich ist das nicht die Einzige ethische bzw. gesellschaftspolitische Sichtweise unter Nachhaltigkeitsforscher:innen (Schmelzer 2015; Adloff/Neckel 2019). Hier wäre der (latente) Technikdeterminismus von Fromm in der Tat etwas zu differenzieren und zu fragen, welche Faktoren denn diese technikdeterministische Perspektive befördern. Das zweite Prinzip der technologischen Gesellschaft, das Fromm nennt (maximale Effizienz und maximale Produktion), gibt einen Hinweis darauf, wo zu suchen wäre: im ökonomischen Kernbereich einer Gesellschaft. Ich komme darauf zurück. So ist denn auch klimapolitisch nicht überraschend allenthalben von Effizienzsteigerung die Rede – Energieeffizienz, Emissionseffizienz etc. -, mit der nicht nur die CO2-Emissionen, sondern auch der Klimawandel gebremst und die Energiewende erreicht werden soll. Dabei ist den meisten beteiligten Wissenschaftler:innen – und ihren ihnen zugeneigten Politiker:innen sowieso – völlig klar, dass der Klimawandel nicht gestoppt, sondern bestenfalls entschleunigt werden kann (so z.B. auch Steffen Rahmstorf 2022). Die Gesellschaften müssen sich folglich auch den nicht mehr zu vermeidenden Effekten einer 1,5 – 2 Grad-Temperatur-Steigerung anpassen. Spätestens hier kommen konkreten Technologie zur gesellschaftlichen Anpassung ins Spiel (siehe z.B. die Auflistung technologischer Ansatzpunkte bei Prognos/Öko-Institut/Wuppertaler Institut 2021) .

Technische Lösungen und (für notwendig erachtete) Effizienzsteigerungen befinden sich – so gesehen – in einem sich selbst verstärkenden Rückkopplungsspiel: je mehr Effizienzsteigerungen nötig sind, desto radikaler werden dann auch die technologischen Lösungen. Am Ende der Fahnenstange droht dann möglicherweise die Welt des „Geo-Engineering“, also jene Gruselwelt, die z.B. darauf zielt, über die aktive Eindämmung der Sonneneinstrahlung nicht nur den Treibhauseffekt abzuschwächen, sondern damit auch eine radikale Gesellschaftstransformation abwenden zu können. Bei Technikfanatikern wird diese irrwitzige Strategie als „Pinatubo-Option“ bezeichnet, was eine Anspielung auf das Freisetzen von Sulfat in die Stratosphäre ist, die nach dem Ausbruch des Pinatubo auf den Philippinen am 12.06.1991 erfolgte und die Sonneneinstrahlung so abschwächte, dass die globale Durchschnittstemperatur kurzfristig um 0,5 Grad sank und die Sonne sichtbar verdunkelt wurde. Die kanadische Politikwissenschaftlerin und Aktivistin Naomi Klein hat in ihrem Buch „Die Entscheidung: Kapitalismus vs. Klima“ (Klein 2015: 312ff.) ausführlich diesen Technikirrsinn beschrieben und kritisiert. Ihr Hauptkritikpunkt ist, dass diese Maßnahmen – bestenfalls – nur einzelne Aspekte verhindern können, die den weiterhin hohen CO2-Ausstoß gar nicht betreffen und andere negative Effekte dieser Karbonisierung der Welt dadurch ignorierten; von nicht bekannten Nebeneffekten ganz zu schweigen. Ihr Nutzeffekt wird also im Hinblick auf die „umfassenderen Systeme“ (Fromm 1987: 51; GA IV: ) überhaupt nicht kalkuliert. Technikfanatismus par excellence.

Das Ziel vieler „grüner Technologien“ ist hingegen – und dabei an die mikroökonomische Handlungslogik kapitalistischer Unternehmen anschließend -, das Wirtschaftswachstum zu erhalten und zugleich den Folgen des Klimawandels zu entkommen. Die „Quadratur des Kreises“ also zu ermöglichen. Dies geschieht entweder auf recht grobschlächtige Weise, wie Naomi Klein bei der Beobachtung von Vorschlägen vieler „Großunternehmen“ und „Milliardären“ beschrieb (ebd.: Teil: II) – sie spricht von „magischem Denken“, das dort vorherrsche – oder etwas kleinteiliger über die genannten verschiedenen gesteuerten „Effizienzrevolutionen“. Was aber übersehen wird, ist, dass in einer auf Wirtschaftswachstum gepolten kapitalistischen Weltökonomie, und sei sie noch so „grün“, die Entkopplung von Wachstum und Emissionen zum einen sehr unwahrscheinlich ist und zum anderen, dass viele Ressourcen und Materialien der Green Economy endlich sind (Altvater 2010; Mahnkopf 2015). Ein Kapitalismus ohne Wachstum ist – folglich – nicht möglich; das verbietet schon das Profitprinzip, zu dessen Zweck zwar „Kostenökonomie“ betrieben wird. Und tatsächlich: an dieser Idee setzt die Effizienzrevolution an, indem die „externen Kosten“ der Produktion (und Konsumption?) einkalkuliert oder aber per technologischen Innovationen vermieden werden sollen -, aber nur um danach ein höheres Erlöswachstum qua Mengensteigerung dieser Innovationen zu erreichen. In der Ökonomie ist dieser Effekt als „Jevons-Paradox“ bekannt. Mit anderen Worten: was im mikroökonomisch „Kleinen“ durch Effizienzrevolutionen gewonnen wird, zerrinnt über die makroökonomischen Outputeffekte der ausgeweiteten Massenproduktion. Zur grundsätzlichen Begrenztheit dieser Effizienzstrategie, deren jüngster Sproß die bereits genannte gemeinsame Studie der Prognos AG, des Öko-Instituts und des Wuppertal Instituts (2021) ist, haben Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf (2007: 468ff.) bereits vor fast 25 Jahren alles Nötige gesagt:

„Die Steigerung der Produktivität und die ‚Effizienzrevolution‘, um den Nutzeffekt des Energie- und Stoffeinsatzes (und nicht nur des Arbeitseinsatzes) ständig zu verbessern, sind normal – so normal, daß davon die Überwindung der durch die Normalität des industriegesellschaftlichen Fortschritts provozierten ökologischen Krise zu erwarten […] Erstaunen hervorruft.“

Altvater/Mahnkopf 2007: 471.

Die Lösungsstrategie gleicht dem sprichwörtlichen Wunder „Münchhausens“, der sich bekanntlich am eigenen Schopf aus dem Schlamassel gezogen haben soll. Damit sind wir bei der Kapitalismuskritik angekommen. Wenden wir uns also dem dritten Aspekt der Fromm’schen Gesellschaftskritik in „Revolution der Hoffnung“ zu, seine Kritik an der kapitalistischen Produktions- und Konsumptionsordnung und dem vierten Modell der Erklärung ausbleibender Nachhaltigkeitsrevolutionen zu, nachdem sich das Technikmodell, bei aller Erleichterung, die es kurzfristig bringen mag, sich nicht als gangbare Alternative für den ganzen Globus gezeigt hat.

Kapitalismus, Entfremdung und Wachstumswahn

Erich Fromms Kapitalismuskritik fokussiert im Wesentlichen auf den sozial(psychologisch)en Prozess der „Entfremdung“ des / der Einzelnen von seiner/ihrer (sozialen) Umwelt. Hiermit bezieht er sich besonders auf die Frühschriften und u.a. das Fetischismus-Kapitel im ersten Band des „Kapitals“ von Karl Marx (s. Fromm 2020: 49ff.; GA :). Die ubiquitär erlittene Entfremdungsdynamik entspringt der Unterwerfung der (Erwerbs-)Arbeit und der Reproduktion des Lebens qua Konsumption unter die Logik der fremdgesteuerten Kapitalakkumulation, -zirkulation und – distribution. Die Kreise der Entfremdung ziehen sich aber sogar noch weiter. Nach Fromms Überzeugung führt die Abhängigkeit der Einzelnen von gesellschaftlichen Prozessen, die nicht adqäuat reflektiert werden, zu einer Vereinzelung und Verarmung des Menschen als sozialem Wesen (‚zoon politikon‘). Die kapitalistische Produktionsweise führt zu einer Entfremdung der Einzelnen von den Ergebnissen ihrer Arbeit ebenso wie von der Wahrnehmung und dem Erkennen von Umweltschäden der auf ökonomisches Wachstum setzenden gesellschaftlichen Entwicklung, symbolisiert im „entfremdeten Konsum“ und der „entfremdeten Arbeit“. Der Bezug zur Nachhaltigkeitskrise ist zwar hier nur mittelbar, aber vorhanden: blindes Wachstum, gemessen in Gütern und Dienstleistungen, führt in die Irre, für die Natur und den Menschen. In Erweiterung der Marx’schen Entfremdungsgedanken und unter Verschmelzung mit dem zentralen psychoanalytischen Konzept der „Übertragung“ von Sigmund Freund sieht Fromm in der Konsequenz dieses Wachstumsfetischismus sogar Tendenzen einer „Entfremdung des Denkens“ und einer „Entfremdung des Herzens“ (ebd.: 61), wenn in seinen sozialen Beziehungen der Mensch des fordistischen Zeitalters sich auf seine Mitmenschen und die öffentliche Meinung bezieht. Statt selbst zu denken, gemäß den Idealen der Aufklärung seit Immanuel Kant, habe der Mensch „sein Denkvermögen den Idolen der öffentlichen Meinung, der Presse, der Regierung oder einem politischen Führer übertragen.“ (Ebd.) Der im Kapitalismus sozialisierte Mensch werde von sich selbst „entfremdet“, von seinem Denken, Handeln, Fühlen ebenso wie von seinen Mitmenschen und der Umwelt. Die kapitalistische Produktions- und Regulationsweise (um hier regulationstheoretische Konzepte einzusetzen) fördere durch ihre Dominanz des Profitmotivs („Gewinn“) und den volkswirtschaftlichen Wachstumsfetisch die Orientierung an einer Existenzweise des „Habens“, in welcher die soziale und ökologische Umwelt nur als „Ding“ betrachtet werde:

„Die Existenzweise des Habens leitet sich von Privateigentum ab. In dieser Existenzweise zählt einzig und allein die Aneignung und das uneingeschränkte Recht, das Erworbene zu behalten. Die Habenorientierung schließt andere aus und verlangt mir keine weitere Anstrenung ab, um meinen Besitz zu behalten bzw. produktiven Gebrauch davon zu machen. Es ist die Haltung, die im Buddhismus als Gier, in der jüdischen und der christlichen Tradition als Habsucht bezeichnet wird. Sie verwandelt alle und alles in tote, meiner Macht unterworfene Objekte.“

Fromm 422015: 97f; (GA : ).

Das Zitat stammt aus seinem gesellschaftskritischen Spätwerk, dem Buch „Haben oder Sein“ (1976), und zeigt, dass Fromm keineswegs bloß ein moralisierender Kulturpessimist gewesen ist. Denn die (freie) Verfügung über das Privateigentum (an Produktionsmitteln) gilt zurecht als ein Kernmerkmal des Kapitalismus (Pistor 2021). Der kritische Kniff Fromms besteht letztlich darin, darauf hinzuweisen, dass das Privateigentum jedoch auch einen ähnlichen Effekt auf Menschen ausüben kann, die nicht über Produktionsmittel verfügen, sondern „nur“ mittels ihrer privaten Konsum- und Vermögensgüter diese besitzergreifende Existenzweise exekutieren. In Zeiten zunehmender sozialer Ungleichheit, die sich gerade an den explodierenden Polarisierungen von Vermögensbeständen und Einkommensflüssen zeigt, eine höchstaktuelle Beobachtung (Piketty 2014). Dass Fromm also – gerade auch in der Fremdwahrnehmung mancher rebellischer Alt-68er – vor allem als Vertreter der „Künstlerkritik“ bzw. „Entfremdungskritik“ im fordistischen Kapitalismus wahrgenommen wird, ist somit nur die halbe Wahrheit. Seine Kapitalismuskritik zielt nicht nur auf die Wurzel individueller und kollektiver Entfremdungsprozesse oder eines entfremdeten Konsums. In „Wege aus einer kranken Gesellschaft“ hat er sehr deutlich gemacht, dass die „Sozialkritik“ eine bedeutende Rolle in seiner Kapitalismuskritik spielt, auch wenn sie zeitbedingt nicht als so bedeutsam angesehen wurde („fordistischer Klassenkompromiss“) – doch da war er in „guter Gesellschaft“ (Habermas, Offe, Streeck etc.): und tatsächlich ist der Lohneinkommensanteil am Volkseinkommen während dieser Zeit im „Golden Age of Capitalism“ (Glyn/Sutcliff 1990) kräftig gestiegen, wie auch die Ungleichheitsverhältnisse sich moderat ausprägten. Die seit den 1970er/1980er Jahren zum Teil sprunghaft zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen, die mit der „Wiederaufstieg des Kapitals“ (Duménil/Levy 2004) in den späten 1970er Jahren begann, hätte ohne jeden Zweifel seine kritische Begutachtung gefunden, wie folgendes Zitat belegt:

„Was die wirtschaftliche Lage des einzelnen Bürgers betrifft,“ – Fromm spricht hier von gesellschaftspolitischen Zielsetzungen eines humanistischen Sozialismus, die er für richtig erachtet – „so war die Gleichheit der Einkommen noch nie eine sozialistische Forderung, und sie wäre auch aus vielen Gründen weder durchführbar noch wünschenswert. Notwendig ist ein Einkommen, das die Grundlage für eine menschwürdige Existenz ist. Die Einkommen sollten allerdings nicht so ungleich sein, daß sie eine unterschiedliche Erfahrung des Lebens bewirken. Ein Mensch mit einem Millioneneinkommen, der jede seiner Launen befriedigen kann, ohne auch nur darüber nachzudenken, erlebt das menschliche Dasein anders als jemand, der, um sich einen kostspieligen Wunsch zu erfüllen, auf die Erfüllung eines anderen Wunsches verzichten muß. Wer niemals über die Grenzen seiner Stadt hinauskommt, wer sich niemals einen Luxus (das heißt etwas, das nicht unbedingt nötig ist) erlauben kann, hat ebenfalls eine andere Erfahrung vom Leben als sein Nachbar, der das kann.“

Fromm 62009: 282 (GA : )

Die Entfremdungserfahrungen beschreibt Fromm in seinem Buch über „Wege aus einer kranken Gesellschaft“ dabei auch keineswegs in kulturkritisch-abstrakter Weise, sondern differenziert diese entlang sozialer Klassenlagen (Fromm 62009: 107ff.; GA: ). Daher ist die oft gehörte Behauptung, Fromms Kritik sei „bloße Kulturkritik“ am Kapitalismus, nicht überzeugend. Auch wenn sich seine Kritik – naturgemäß und notwendigerweise – auf den „fordistischen Kapitalismus“ des US-amerikanischen Kapitalismus der 1950er und 1960er Jahre bezog, ist sie aufgrund von Ungleichzeitigkeiten und Ungleichheiten im globalen Kapitalismus nicht gegenstandslos. Trotz aller spätkapitalistischen Rhetorik von Flexibilität, Selbstwertsteigerung und Aktivierung, bleibt seine Konformismuskritik bedeutsam; nur die Paramenter des Konformismus haben sich geändert. Wer seine – 1955 veröffentlichten ! – Warnungen vor einem in der Zukunft drohenden „Superkapitalismus“ (ebd.: 204ff.; GA : ) liest, kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass hier – in der Tat prophetisch ! – eine Entwicklung des Kapitalismus von Fromm erspürt wurde, wie er sich in Nordamerika und Europa seit der „neoliberalen Konterrevolution“ (Elmar Altvater 1981) in der Tat durchgesetzt hat. Hier gelten mittlerweile Flexibilität, erfolgsorientierte Entlohnung und unternehmerisches Denken – selbst für Arbeitnehmer:innen und Kunden – als neue Regulative des postfordistischen Kapitalismus und werden als „neue Götzen“ gepriesen, die in den segensreichen Zustand der moralisch überhöhten Selbstausbeutung münden sollen (Boltanski/Chiapello 1993; Bröckling/Krasman/Lemke 2000; Dörre/Lessenich/Rosa 2009, 2016). Der von Erich Fromm herausgearbeitete „Marketing-Charakter“, mit der die Einzelne auf dem „Persönlichkeitsmarkt“ (Fromm 422015: 180; GA : ) in Erscheinung tritt und – distanziert und kühl – ihren Erfolg anstrebt, scheint hier auf die Spitze getrieben zu sein. Fromms Kapitalismuskritik ist – mit anderen Worten – durchaus auf der Höhe der Zeit.11

Doch Kapitalismuskritik war bei Fromm auch stets Wachstumskritik und diese ist in der Debatte um die Zukünfte der Nachhaltigkeit recht präsent. Seine Kritik ist dabei – zeitbedingt – weniger bezogen auf die ökologischen Grenzen des Wachstums, sondern wegen der entfremdenden Wirkungen auf den Menschen, die insbesondere die psychologische Wirkung des Massenkonsums betrifft. Es geht hierbei jedoch keineswegs um konservative Konsumkritik im Sinne eines unreflektierten: „Zügele dich!“, die sich -in einer Zeit zunehmender Ungleichheit – nur die Reichen (in Nord und Süd) leisten können. Fromm war niemals Asket und Konsumverachter, sondern plädierte vielmehr für einen sinnvollen und bewusst sinnlich wahrgenommen Konsum. Lawrence H. Friedman weist in seiner Fromm-Biografie mit einem Augenzwinkern darauf hin, dass der in den USA wohlbekannte Psychoanalytiker und Sozialkritiker einem gewissen „Luxus-Konsum“ nicht abgeneigt war (Friedman 2013: ). Entgegen Asssoziationen mit narzisstischen und pseudoökologischen Superhedonisten vom Schlage eines Richard Branson, Elon Musk oder Bill Gates (siehe hierzu: Klein 2015: 281ff.) jedoch stellte sich der „Luxus“ bei Fromm als gemeinschaftliches Feiern bei gutem Essen und Getränken dar. Von einem exzessiven Konsum aller möglicher Konsumartikel – wie Friedmans Darstellung indirekt suggeriert – kann somit nicht die Rede sein. Fromms Konsumkritik, von der wir bereits gestern hörten und weswegen ich diese hier kurz halten kann, basierte im Kern auf der Auffassung, dass das Marketing der Großunternehmen zum Zwecke der Profitproduktion unzählige „Bedürfnisse“ in uns wecke, die gar nicht nötig sind (Thorstein Veblens Konsumkritik war Fromm nicht unbekannt; Fromm 1987: 55f; GA IV: ). Es handelt sich folglich um entfremdete Bedürfnisse, deren Befriedigung nicht uns, sondern dem Umsatz- und Gewinninteressen der Unternehmen dienen. Ist es nötig zu erwähnen, dass diese Kritik im Hinblick auf vermeintliche Bioprodukte, die die sozialökologische Herstellung und einen solchen Transport nur vortäuschen, hochaktuell ist (Schätzing 2021: 206ff.)? Die Folgen für die Menschen sind verheerend: blinder Konsum ignoriert die sozialökologischen Bedingungen, unter denen sie von anderen Menschen hergestellt und zu uns gebracht werden, und degradiert die Konsumentin zur Verwertungsagentin profitorientierter Kapitalakkumulation, die diese – horribile dictu – womöglich dann noch zur kreativen Erschaffung eines „eigenen“ Lebensstils zusammenfantasiert. Ein „humanistischer Konsum“ war für Fromm Bestandteil einer notwendigen gesellschaftlichen Transformation, deren Konturen für ihn in die Vision eines „humanistischen Sozialismus“ eingebettet waren. Wenden wir uns nun – in einem letzten Schritt – diesen transformativen Ideen im Werk des „politischen Fromm“ zu. Vorher jedoch eine Zusammenschau der Fromm’schen Ideen zu den Transformationsengpässen zukünftiger Nachhaltigkeit. Was bringt mehr Erklärungsgewicht auf die Waage?

Psychologie, Propaganda, Technik oder Kapitalismus: was verhindert die Transformation?

Brauchen wir eine „Revolution der Hoffnung“ für die globale „Nachhaltigkeitsrevolution“ ?

Frank Adloff und Sighard Neckel (2019) weisen in ihrem Aufsatz zu den „Zukünften der Nachhaltigkeit“ darauf hin,

Humanistischer Sozialismus: gestern, heute, morgen?!

Konturen einer aufgeklärten Nachhaltigkeitsrevolution: ein Sozialismus des 21. Jahrhundert?

„Revolution der Hoffnung“: Ethisch handeln, nicht zaudern!

Literaturliste

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Anmerkungen

1 Fromm war sich durchaus der analytischen Problematik des Begriffs „Staatskapitalismus“ zur Beschreibung des Stalin’schen und Chrutschow’schen politisch-ökonomischen Systems der Sowjetunion bewusst (Fromm 1992: 44, Fn 2; GA : ). Dennoch war er überzeugt, dass allein die „Verstaatlichung“ des Eigentums an den Produktionsmitteln, wie sie in vielen Staaten des realsozialistischen Staatensystems durchgeführt worden war, keine Garantie für die Realisierung sozialistischer Ideale ist (ebd.: 75; GA : ). Insofern nutzte er auch in späteren Veröffentlichung immer wieder den Begriff „Staatskapitalismus“ zur Charakterisierung des politisch-ökonomischen Systems jener Staaten. In der Fromm’schen Begrifflichkeit reflektiert sich der damalige Stand der Vergleichenden Politischen Ökonomie, die von einem heimlichen Konvergenztrend zwischen den kapitalistischen Systemen im Westen und den realsozialistischen Systemen im Osten ausging (z.B. Kerr/Harbison/Meyers 1960; Millar 1968; Lindblom 1977; Murray 1990). Fromms Auffassung war also keineswegs so esoterisch, wie seine – zurecht kritisierten – unbelegten Behauptungen rückblickend erscheinen. Generell ist ideologiekritisch anzumerken, dass der Begriff des „Staatskapitalismus“ und die Konvergenzthese von der Genese her und im weiteren Verlauf der politischen Debatten ein ideologischer Baustein im Diskurs der „neoliberalen Konterrevolution“ (Elmar Altvater 1981) gewesen sind, mit dem jede Form von Sozialstaatlichkeit im westlichen Kapitalismus kritisiert und „mehr Markt“ eingefordert worden ist. Beide kapitalismusfreundlichen Wendungen hätten – trotz seiner Bürokratismus-Kritik – keineswegs Fromms Unterstützung gefunden (siehe seine visionäre Kritik am drohenden „Superkapitalismus“ in den USA: Fromm 62009: 204ff.; GA: ).

2 Colin Crouchs und Wolfgang Streecks rückblickende Idealisierung des „sozialdemokratischen Zeitalters“ – wo und wann fand das eigentlich statt? – ist freilich und mit gutem Recht nicht unwidersprochen geblieben (z.B. Blühdorn 2013). Es scheint, dass ihre Kritik nun nach dem endgütligen Ende des (neu-)sozialdemokratischen Projektes eine Kritik neu zu beleben scheint, die im neomarxistischen Diskurs der 1970er und 1980er Jahre bereits das Licht der Welt erblickt hatte. In Deutschland gab es diese demokratiefrohe „Epoche“ bestenfalls im kurzen Traum sozialliberaler Erneuerung von 1969-1981 (Hirsch/Roth 1968; Scharpf 1987). Die Transformation der Demokratie (Agnoli 1967; Hirsch 1980) war für diese Zeit aber ebenfalls Thema, so dass die rückblickende Idealisierung umsomehr irritieren muss, gerade auch, weil jene frühe neomarxistische Kritik von Streeck und Crouch mit vollem Bewusstsein komplett ignoriert wird. Auch Oliver Nachtwey (2017) überzieht rückblickend mit seiner These von der heutigen Abstiegsgesellschaft die Progressivität des „rigiden Fordismus“ (Stephan Lessenich) der Nachkriegszeit.

3 Die französische Soziologin Luc Boltanski und der Soziologe Eve Chiapello haben in ihrer historischen Studie zum „Neuen Geist des Kapitalismus“ (1993) die Verschmelzung antikapitalistischer Gesellschaftskritik aus den 1960er, 1970er und 1980er Jahren mit der neoliberalen Erneuerung des „fordistischen Kapitalismus“ für die französische Gesellschaft untersucht. Sie unterscheiden dabei eine „Sozialkritik“ von einer „Künstlerkritik“, die am fordistischen Kapitalismus während seiner Krisenphase (1966-1989) geübt wurde (siehe auch die ähnlich gelagert Interpretation bei Hirsch/Roth 1986). Während die „Künstlerkritik“ vor allem die „Rigidität“ des fordistischen Kapitalismus kritisierte, die die Subjekte zu „Automaten“ mache und die „Kreativität“ und „Autonomie“ der Subjekte erdrücke (Fromm’sche Bezüge sind hier offensichtlich), zielte die „Sozialkritik“ auf Prozesse sozialer Ungleichheitsproduktion, politisch-ökonomischer Herrschaftsbeziehungen und gesellschaftlicher Ausgrenzungsmuster. Während der neoliberalen Konterrevolution seit Mitte der 1970er Jahre hat sich der rigide Kapitalismus des fordistischen Zeitalters in einen „flexiblen Kapitalismus“ (Candeias/Deppe 2001; Lessenich 2009) transformiert, der in selektiver Weise einzelne Elemente der „Künstlerkritik“ in seinen Diskurs eingebaut hat. Die Sozialkritik ist – zusammen mit dem Fordismus – marginalisiert worden. Mittlerweile ist jedoch die in den 1980er Jahren bis in die Kreise der Sozialwissenschaft und Sozialphilosophie behauptete wohlfahrtsstaatliche „Stillstellung“ des Klassenkonflikts (Habermas, Beck, Offe etc.) der Einsicht in die Rückkehr der „sozialen Frage“ gewichen. Paradoxerweise wird jedoch diese soziale Frage zunehmend im Sinne der „Künstlerkritik“ beantwortet und soziale Abstiegs- und Ungleichheitserfahrungen als „selbstverschuldet“ (Schmidt-Semisch 2000) kategorisiert. Der „neosoziale Sozialstaat“ (Lessenich 2008) fordert Autonomie, Aktivität und Arbeitsfähigkeit jedes Gesellschaftsmitglieds ein. Diese „Triple-A-Strategie“ verzichtet im Kern auf umverteilende Sozialkritik und subsumiert diese der Künstlerkritik. Das „unternehmerische Selbst“ (Bröckling 2005) wird zum moralischen Leitbild der neoliberalen Gesellschaft. Mit sozialistischen Befreiungsidealen, denen Fromm noch unter Bezug auf das Marx’sche Frühwerk anhing, hat dies freilich nicht mehr allzuviel zu tun.

4 Ohne das Engagement und die schier unbändige Energie des (letzten) wissenschaftlichen Mitarbeiters von Prof. Erich Fromm, Dr. Rainer Funk, der Fromms bis dahing verfügbares Gesamtwerk im Übergang zu den 1980er Jahren in einem atemberaubenden Projekt dem deutschen Publikum zur Verfügung stellte (mit Unterstütztung zahlreicher Freund:innen und der Deutschen Verlagsanstalt), hätte das Fromm’sche Gedankengut kaum so stark und so rasch im deutschsprachigen Raum bekannt werden können, dass der Autor dieser Zeilen während seiner Abiturjahre mit dem Fromm’schen Oeuvre in seinem Religionsunterricht „beglückt“ – wenn ich das so sagen darf – worden wäre. Dem Ehrenvorsitzenden der Internationalen Erich Fromm-Gesellschaft kann hierfür nicht oft genug gedankt werden. Ich verneige mich vor dieser Lebensleistung! Warum die Rezeption Fromms erst so spät einsetzte, konnte dieser sich, befragt in einem Interview mit dem SWR (ein 3/4-Jahr vor seinem Tod im März 1980) auch nicht erklären. Für die wissenschaftliche Öffentlichkeit wurde Fromms wesentlicher Beitrag für das Forschungsprogramm der frühen Kritischen Theorie erst durch die Habilitationsschrift von Rolf Wiggershaus (1986) zurecht gerückt. Für die Zukunft ist zu hoffen, dass auch der „politische Fromm“ zunehmend in Deutschland wahrgenommen wird – und sei es nur zum besseren Verständnis seiner Thesen und Beiträge. Der US-amerikanische Rechtshistoriker, Lawrence M. Friedman, hat mit seiner 2013 erschienenen Fromm-Biografie einige interessante Kapital über den „politischen Fromm“ veröffentlicht. Neben einigen sensationslüsternen Spekulationen ist vor allem an der sonst recht kurzweiligen Biografie zu kritisieren, dass die Fromm’schen politischen Aktivitäten und Reformvorschläge kaum in einen größeren politisch-ökonomischen Kontext gestellt werden und auch nicht auf ihre Aktualität hin diskutiert werden. Insofern ein höchst unpolitisches Buch. Zu diesem großen Thema einen kleinen Beitrag zu leisten, versucht dieser Vortrag zur Konferenz.

5 Diese Einschätzung ist keineswegs eine bloß eurozentrische oder „nördliche“ Perspektive, denn die nukleare Zerstörung, die – von Teilen des US-Militärstrategieestablishments – sogar als begrenzbar und damit unter bestimmten Bedingungen auch als „Erstschlag“ durchführbar angenommen wurde, hätte in der Tat globale Auswirkungen, die keineswegs auf die „Konfliktparteien“ begrenzt geblieben wären. Insofern ist das „Atomzeitalter“ noch lange vor der visuellen Außenabbildung der Erde aus dem Weltall der Eintritt der Menschheit nicht nur in das anthropozentrische Weltalter (Anthropozän), sondern auch in das Zeitalter eines möglichen globalen Armageddon. Aus der Frommschen analytischen Sozialpsychologie ist es eine hochgradige Pathologie, denn hiermit materialisierte sich der gesellschaftliche Charakterorientierung wenigstens der führenden gesellschaftlichen Eliten als eine der „Vergötzung“ des Leblosen, schlimmstenfalls der Nekrophilie oder des desktruktiven Denkens. Es ist nicht erstaunlich, dass sich Fromm, der zeitlebens gegen die nukleare Aufrüstung (und wohl auch die „friedliche“ Nutzung der Kernenergie kritisch beäugte) ankämpfte, sich daher als „Weltbürger“ betrachtete und für eine gemeiname Aussöhnung der Blöcke und eine gemeinsame Friedensperspektive für den gesamten Globus eintrat.

6 Diese Auffassung Fromms bringt uns freilich in ein wissenschaftstheoretisches Dilemma, welches in unterschiedlicher Form als „Werturteilsstreit“ oder „Positivismusstreit“ in die Geschichte der Wissenschaftstheorie eingegangen ist. Seine Grundfrage besteht in Folgendem: lässt sich wissenschaftliche Erkenntis aus sich heraus begründen oder ist ein „metaphysischer“ oder wenigstens „wertbasierter“ Ausgangspunkt notwendig und bestimmbar, von dem ausgehend (sozial – und natur)wissenschaftliche Erkenntnisse – wenigstens – relativ sicher fortführbar sind. Während naturwissenschafltiche Akteure oft zu einem „fröhlichen Positivismus“ neigen, sollte in Anlehnung an erkenntisrelativistische Positionen in der Wissenschaftstheorie (Kuhn 1976) und wissenschaftssoziologische Ansätze (Weingart 2006) zumindest ein gewisser Skeptizismus vorherrschen bzgl. allzu optimistischer Ansichten über eine strikt objektive (Natur-)Wissenschaft. Die Fromm’sche Lösung des „Fanatismus“-Paradoxes über eine individualpsychologische Bewertung der eine potentielle fanatische Position äußerenden Person steht zweifellos eher in der Tradition einer hermeneutisch-interpretierenden Wissenschaftsauffassung als eines bloßen experimentellen Szientismus der behavioristischen Wissenschaftsauffassung in Psychologie und Soziologie. Das Paradox lässt sich an dieser Stelle nicht endgültig erörtern. Die Fromm’sche Lösung ist in jedem Fall „unorthodox“.

7 Dieser Mechanismus irrationaler Politikformulierung ist in der heutigen Politik- und Sozialwissenschaft äußerst verpönt. Die hegemoniale Auffassung ist einerseits, dass die etablierte Sozial- und Naturwissenschaften sui generis objektive, also nicht wertverzerrende Resultate hervorbringen. Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa (2021) vermuten sogar, dass eine kritische Soziologie bzw. Gesellschaftstheorie eine aussterbende Spezies sei. Aus der Perspeektive dieser hegemonialen Sozial- und Naturwissenschaften besteht daher überhaupt kein Bedarf an herrschaftssoziologischen Forschungen. Andererseits – so die Auffassung – ist die verwissenschaftliche Politik ein Antidot zu Manipulationsbedarfen durch die staatliche Politik. Renommierte Forscher:innen und kritische Intellektuelle wie z.B. Noam Chomsky, Ingeborg Maus oder auch Rainer Mausfeld haben indes in Tradition auch des von Fromm sehr geschätzten C. Wright Mills die Bedeutsamkeit einer herrschaftssoziologischen Perspektive als bedeutsame Aufgabe einer gesellschaftskritischen Sozialwissenschaft fortgeführt. Noam Chomsky hat für seine stets gesellschaftskritische und humanistische Tätigkeit im Jahr 2010 den Preis der Internationalen Erich Fromm-Gesellschaft erhalten. Insofern sind Fragen nach der Manipulation der Regierten durch (Teile) der Regierenden keineswegs obsolet, sondern – leider – immer noch hochaktuell, auch wenn die Manipulation (noch) keine totalitären Züge angenommen hat – wenigstens in einigen demokratischen Staaten der Erde. Dort vorhanden ist sie aber auch, wie etwa die seit ca. 20 Jahren geführte Debatte um eine „Postdemokratie“ (Crouch 2008, 2022) zeigt.

8 Es wäre interessant zu diskutieren, ob nicht auch der seit nahezu zwanzig Jahren sich schleichend entwickelnde „Neue Kalte Krieg“ zwischen den USA und Russland, der dieses Jahr „sehr heiß“ geworden ist und die nukleare Gefahr auf ein lange Zeit nicht mehr für denkbar gehaltenes Niveau gehoben hat, mit den Mechanismen der Fromm’schen Politischen Psychologie verstehbar wären. Auf diese Versuchung werde ich hier aber verzichten.

9 Diese Ausarbeitung kann hier nicht geleistet werden und muss auf ein späteres Publikationsprojekt verschoben werden. Ich habe allerdings bereits eine Richtung dieser theoretischen Neufassung angedeutet: die Integration ideentheoretischer und diskurstheoretischer Ansätze, ohne jedoch die im engeren Sinne psychopathologischen Mechanismen in Fromms Politischer Psychologie aufzugeben.

10 Im psychoanalytischem Paradigma würde man statt „kognitiver Dissonanz“ von einer „Dissoziationsstörung“ oder auch „Spaltung“ sprechen, womit nicht nur auf diesen konkreten Zusammenhang, sondern im Resultat auf die gesamte Person gezielt werden würde, die Folge eines Traumas („Dissoziation“) oder auch eines ambivalenten und gespaltenen „Erlebens“ der Realität ist (Ermann 2004).

11 Hartmut Rosa, der im Jahr 2018 mit dem Erich-Fromm-Preis geehrt wurde, hat zugestanden, dass bei der Entwicklung seiner mittlerweile recht bekannten „Resonanztheorie“ – als positiver Gegenbegriff zur „Entfremdungs“-Kriitik der Kritischen Theorie – manche Fromm’sche Überlegung ihn inspiriert hat. In jedem Fall verdanke er den Fromm’schen sozialphilosophischen Einsichten viel bei der Ausarbeitunt seines Resonanz-Konzeptes (Rosa 2018). Freilich hat auch Hartmut Rosa die „sozialistisch-politische Seite“ Fromms nicht rezipiert.