In seiner umfangreichen Habilitationsschrift zur „Entwicklung der Krititschen Theorie zur Frankfurter Schule“ bezeichnet der linke Sozialphilosoph und Soziologe, Alex Demirovic, die „Gründerväter“ der (alten) Kritischen Theorie, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, aber nicht nur diese, liebevoll und voller Wertschätzung als „nonkonformistische Intellektuelle“ (Demirovic 1999). Bemerkenswert ist freilich, dass – wieder einmal – der Schlüsselbeitrag des Frankfurter Psychoanalytikers und Sozialphilosoph Erich Fromm zur Entstehung des wissenschaftlichen Lebenslaufs der Kritischen Theorie mit keinem Wort Erwähnung findet. Weder in der Literaturliste, noch im Personenregister taucht sein Name auf. Warum?
Nun, die Antwort ist ganz einfach und keineswegs vernichtend für Demirovic. Denn bei seiner Studie handelt es sich um die historische Rekonstruktion der intellektuellen und vor allem auch gesellschaftspolitischen „Renaissance“ kritischen Denkens in Deutschland nach der Rückkehr der beiden Hauptprotagonisten, Horkheimer und Adorno, nach Deutschland. Das hat Fromm nicht über sich gebracht. Und auch Marcuse nicht, dessen Oeuvre daher auch ebenfalls nicht in der beeindruckenden Habilitationsschrift erscheint. Amerika ist anders. Diese geflissentliche Ignoranz intellektueller Hofberichterstatter über die „Frankfurter Schule“, wie man jetzt etwas bissig vermerken darf, gegenüber „Randfiguren“ ist freilich weder originell noch unbekannt. Selbst Rolf Wiggershaus (1986) hat in seiner Habilitationsschrift nach der Verabschiedung Fromms aus dem engeren Kreis der Kritischen Theorie, der er – wie Wiggershaus zurecht betont – entgegen vielfacher Ignoranz unter den intellektuellen Heimkehrern, die Demirovic hochleben lässt, von Anfang an als Schlüsselmitarbeiter angehörte, dessen intellektuellen Entwicklungsweg mehr oder weniger als „feuilletonistisch“ dequalifiziert. Ähnlich Wolfgang Bonß, der immerhin Fromms Studie zu „Arbeiter und Angestellten am Vorabend des Dritten Reiches“ im Rahmen seiner Dissertation der deutschen Hochschulöffentlichkeit und Soziologie wieder verfügbar gemacht hat (Fromm 1980).
Nun zeugt diese – sehr „alteuropäische“ (Donald Rumsfeld) – intellektuelle Ignoranz gegen sozialphilosophische und gesellschaftspolitische Entwicklungen in den USA keineswegs von der angeblichen Weltoffenheit, die die Altväter und Renegaten der nunmehr institutionell geronnen Frankfurter Schule, allen voran Jürgen Habermas, vor sich hertragen. Zwar lässt sich nicht urteilen, dass die postkrititschen Direktoren des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt, zu denen Habermas gerade nicht gehörte, die Beiträge Fromms nicht im Nachhinein hin und wieder würdigten – das konnten sie nach der historischen Studie von Wiggershaus kaum vermeiden – aber dessen Verdikt gilt bis heute: Fromms Entwicklung ist spätestens nach der „Furcht vor der Freiheit“ (1941) nicht mehr „up-to-date“ – zumindest in Europa oder wenigstens Deutschland. Diese Ansicht könnte nicht falscher sein und ignoriert zahlreihe Bücher und Artikel Fromms zu wichtigen wissenschaftlichen Fragen, denen sich die nunmehr vor allem philosophisch ausgerichteten Frankfurter Lehrer der gleichnamigen Schule nicht mehr annahmen. Warum auch? Ihrer Ansicht nach hat Fromm jeden sozialphilosophischen Faden in seinen wissenschaftlichen Tätigkeiten verloren.
Das Urteil von Rolf Wiggershaus überrascht allerdings bei genauem Hinsehen, denn in seinem Buch werden die Fromm’schen Schriften nur eher kursorisch behandelt. Das kann zwar nicht überraschen, handelt es sich doch um die unzweifelhaft riesige und voluminöse Geschichte der Frankfurter Schule, bei der – notgedrungen – Personen, Positionen und Perspektiven wegfallen müssen. Eine erzählte Geschichte, ein wissenschaftliches Narrativ ist – bekanntermaßen – mit der wahren Geschichte, jener komplexen Gemengelage aus Personen, Positionen und Perspektiven nicht identisch. Kann sie auch gar nicht sein, denn Narrative brauchen Resonanz und Gefallen und da konnte Fromms Würdigung offenbar nicht helfen. Allerdings: vergleicht man die Bücher von Habermas (oder auch Adorno, der älter war) und Fromm aus den 1950er, 1960er und 1970er Jahren, muss man sich schon die Augen reiben und gelegentliche Schwindelanfälle abwehren, wenn von Wiggershaus ernsthaft behauptet wird, Fromm wäre nicht mehr „up-to-date“. Wenn dann vor allem – und wahrscheinlich unvermeidbar – vor allem Fromms publizistisch erfolgreichen Bücher, „Die Kunst des Liebens“ (1956) oder „Haben oder Sein“ (1976), als populärwissenschaftlich gekennzeichnet werden, dürfte das weniger an der mangelnden Verwendung empirischer Forschungsmethoden liegen, die man bei den ehrwürdigen Vertreter:innen der – nunmehr so bezeichneten – Frankfurter Schule in den 1950er und 1960er Jahr auch lange suchen kann (dagegen: Fromm/Maccoby 1970). Worauf bezieht sich das abwertende Urteil über Fromm denn dann?
Schweigen. Es stellt sich daher der Verdacht ein, dass Fromm allein deshalb nicht „ernst“ genommen werden kann, weil er so „populär“ ist – und das vor allem, aber nicht nur, in Amerika. Der Kommerz wurde von Adorno und Horkheimer maßlos verachtet, aber offenbar hielten sie den Widerspruch nicht aus, Radikalkritik und kommerziellen Erfolg zugleich zu sehen – etwas, was ihnen ironischerweise nur posthum gelungen ist. Nun ist zweifellos der kommerzielle Erfolg eines Buches für hart arbeitende Philosophen, vor allem deutsche, sehr zweifelhaft. Ist es nicht ein Genuss, Kant, Hegel, Habermas oder Adorno (KHHA) zu lesen? Wer das behauptet, ist nicht aufrichtig, unterschlägt geistige Anstrengung und kleidet sich – schlimmstenfalls – in das Gewand des „Großdenkers“, an dessen Aura er oder sie gern teilhaben möchte. Fromm hätte das – zurecht – als Idolarisierung zur Befriedigung narzisstischer Bedürfnisse kritisiert – eine intellektuelle Unart zudem, war er doch als „sozialistischer Humanist“ (Fromm 1965) von der Bedeutsamkeit der „Klassiker“ überzeugt. Dennoch lesen sich zahllose „Rekonstruktionen“ der Gedanken von KHHA in den 1960er und 1970er Jahren – und auch von Marx – in der 1968er-Bewegung mehr oder weniger als grenzwertige „Plagiate“ der Ursprungstexte, wobei zugestanden werden muss, dass es damals üblich war, ausführliche Kommentierungen von Originaltexten als „eigene Arbeiten“ auszugeben. Heute würde das – sauber gearbeitet – bestenfalls als „Exzerpt“ durchgehen; auch Habermas Hauptwerk, Theorie der kommunikativen Vernunft (1981), bleibt von diesem Urteil nicht völlig ausgespart, wenn es auch kein Plagiat, sondern eine theoretische Innovation war. Tempora mutantur.
Doch wo sind sie – die kritischen Erörterungen so weitsichtiger Studien und gesellschaftspolitisch bedeutsamer Interventionen von Erich Fromm, wie „Wege aus einer kranken Gesellschaft“ (1955), „Es geht um den Menschen“ (1962) oder „Revolution der Hoffnung“ (1968) und die „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ (1973) von den „Theoretikern“ der Frankfurter Schule? Dass Horkheimer und Adorno später einem gewissen Linksnitzscheanismus zuneigten, indem sie die existierende Welt als die schlechteste aller möglichen Welten auffassten und daran – ästhetisch anspruchsvoll freilich – litten, pfeifen mittlerweile die Spatzen von den Dächern der Universitäten. Bekanntlich gibt es ja „kein wahres Leben im falschen“, wie Adornos Aphorismus – oder auch intellektueller Kalauer – allenthalben plakatiert wird. Dabei ist weder gegen Aphorismen oder Kalauer an sich etwas einzuwenden. Im Gegenteil, diese literarische Form ist blitzgescheit. Dennoch drückt sich in ihnen eine manierierte Besserwisserei aus, die politisch nicht mehr handeln können will. Dies hielt Fromm im Angesicht der atomaren Katastrophe allerdings für völlig verantwortungslos. Spitz formuliert: mit ästhetisierter Gesinnungsethik lässt sich im Hochschulraum viel eher ein Blumentopf gewinnen als mit ernsthafter gesellschaftpolitischer Aktion und praktischer Verantwortungsethik – allerdings jenseits des „gesunden Menschenverstands“. Insofern hätten die 68er besser auf Fromm als auf die Elfenbein-Revoluzzer setzen sollen, wäre ihnen wirklich an einer Veränderung der Welt gelegen (gewesen). Doch der Marsch durch die (akademischen) Institutionen kann ja auch in ihnen enden. Quod erat demonstrandum.
Erich Fromm ist zweifellos ein Non-Konformist gewesen. Diese These dürfte unbesehen für praktisch alle Mitglieder der „alten“ Kritischen Theorie gelten. Aber war er ein Intellektueller? In Demirovic‘ (1999: 508ff.) Habilitationsschrift wird insbesondere Adorno ein Habitus und eine Strategie der „Theoretischen Praxis“ unterstellt, die in den (unentschiedenen) „Positivismus“-Streit in der deutschen Soziologie mündete. Ein nonkonformistischer Intellektueller will sich nicht gemein machen mit den „herrschenden Ideen“ in einer Gesellschaft, er will Ideen und Ansichten gegen den Strich bürsten, sie in ihrer Gewissheit hinterfragen. Von dieser Warte aus, war auch Fromm zweifellos ein non-konformistischer Intellektueller, denn vor dem „gesunden Menschenverstand“ graute ihm – zurecht wie spätestens seit Goldhagens Studie zu „Hitler’s Willing Executioners“ bekannt sein dürfte. Dennoch reicht das nicht aus. Im Vergleich zu den intellektuellen Ideologen (und diese Bezeichnung ist ganz analytisch und nicht pejorativ gemeint) der Frankfurter Schule, die für die Politik bestenfalls Stichwortgeber oder auch kritisch-konstruktive Legitimatoren waren, die also stets die Distanz zwischen Politik und Wissenschaft respektiert haben, diese sogar für die Wahrhaftigkeit ihrer distanzierten Bemerkungen heranzogen, hat sich Fromm ins Getümmel der politischen Auseinandersetzungen begeben – und ist oft daran gescheitert (Friedman 2013).
Ein solches gesellschaftspolitisches Engangement ist indessen kaum möglich, ohne – reformistisch, wie die meisten Kritiker Fromms das qualifizierten – in Kompromisse einzusteigen und Abstriche an den utopischen Vorstellungen zu machen – etwas, was zahllose, kritische natürlich, „Absolventen“ der Frankfurter Schule nur allzugerne in ihrer späteren Politpraxis exekutierten. Gestützt auf Adornos moralische Aufforderung, Ausschwitz sich nicht wiederholen zu lassen, ließ sich gern mal – Adorno konnte sich ja nicht mehr wehren – ein Angriffskrieg legitimieren. In diesem unvermeidbaren Zugang auf Realpolitik liegt die eigentlich Crux des Urteils über Fromm begraben. In den sprichwörtlich wilden 1960er und 1970ern blieb Fromm in reflektierter Distanz zu den Protestbewegungen, deren besinnungslose Anfachung durch manche (frühe) Schriften Herbert Marcuses in den USA er sehr kritisch betrachtete, womit er paradoxerweise wieder sehr nah bei Adorno war, der solche Bewegungen – gelegentlich völlig verklemmt, erinnert sei hier an die „Oben-Ohne-Proteste“ einiger Studentinnen in seinen Vorlesungen – nicht zu verstehen vermochte. Da war Fromm weiter, wenn er auch in diesem konkreten Fall die Provokation wohl als narzisstisch betrachtet hätte.
Allerdings hielt Fromm von der Forderung nach übermäßigen Zugeständnissen an den politischen Realismus selbst keineswegs etwas. Er war – wie gesagt – ein scharfer Kritiker des sog. „gesunden Menschenverstandes“, dennoch zögerte er nicht, die Menschen von ihren „Fehlern“ und „Übertragungen“ zu überzeugen – er verstand sich trotz aller Skepsis als „Prophet“, wie es sein ehemaliger Mitarbeiter, Michael Maccoby, einmal kritisch genannt hatte, der die Menschen zu einem besseren Dasein bewegen wollte. Einen solchen Anspruch sahen Adorno und auch Horkheimer in der „formierten Gesellschaft“ (Ludwig Erhard) als völlig hoffnungslos an. Doch der oft gehörte Vorwurf, Fromm sei nicht nur zu „reformistisch“, sondern auch zu „hoffnungsschwanger“, ist schlicht unzutreffend. Eine solche Behauptung zeugt von einer manifesten Unkenntnis der Fromm’schen Schriften, dessen Zeitdiagnosen von zahlreichen Beschreibungen krisenhafter Entwicklung(smöglichkeiten) geprägt sind, von Günther Anders „Antiquiertheit des Menschen“, über Meadows‘ „Grenzen des Wachstums“ bis hin zu Robert Jungks „Die große Maschine“, um nur einige zu nennen. Fromm war Realist und Optimist zugleich, und auf ihn – vielmehr als auf die intellektuellen Theoriepraktiker der Frankfurter Schule – trifft der Leithabitus des kritischen Intellektuellen zu, den Antonio Gramscis einst begründete und dessen moralisches Leitmotiv sich auch Alex Demirovic versicherte: sei ein theoretischer Pessimist, erwarte also stets das Schlimmste, aber handle stets mit Optimismus und Glaube, hoffe also auf die Vernunft! In den Worten von Erich Fromm in seinem Buch über die „Revolution der Hoffnung“ (Original: 1968):
Es „ist zu betonen, daß eine realistische, unsentimentale Haltung – die meinetwegen geradezu an Zynismus grenzen könnte – unbedingt mit einem tiefen Glauben und mit Hoffnung verbunden sein muss. Meist hat beides nichts miteinander zu tun. Menschen voll Glauben und Hoffnung sind oft unrealistisch eingestellt, und die Realisten besitzen oft nur wenig Hoffnung und Glauben. Wir werden einen Ausweg aus der gegenwärtigen Situation nur finden, wenn Realismus und Glaube wieder miteinander verbunden werden, wie das bei einigen der großen Lehrer der Menschheit der Fall war.“
Erich Fromm, „Revolution der Hoffnung. Für eine Humanisierung der Technik, münchen (Dtv/Klett-cotta) 1986, S. 177
Im Gegensatz zum freischwebenden (an-?)organischen Intellektuellen der Frankfurter Schule, der in der theoretischen Praxis seine Wirkung erhofft und doch immer wieder enttäuscht wird, setzt Fromm – und hierin Herbert Marcuses reflektierteren Aufforderungen in „Konterrevolution und Revolte“ (1971) und „Versuch über die Befreiung“ (1972) sehr ähnlich – auf die politische Praxis und die Idee eines „humanistischen Sozialismus“ (Fromm 1955, 1965). Vielleicht lässt sich pointiert argumentieren, dass während die heimgekehrte Frankfurter Schule weiterhin sich in den Pfaden des Deutschen Idealismus fortbewegt, Erich Fromm von der radikaldemokratischen Idee des amerikanischen Pragmatismus eines John Dewey mehr angesprochen wurde als sich auf den Pfaden in die Wirrnisse des philosophischen Dschungels kontinentaleuropäischer Prägung zu verirren. Haben die (vermeintlichen) Urväter der Kritischen Theorie mit ihrer Rückkehr nach Deutschland die Sozialfigur des non-konformistischen Intellektuellen begründet, so figuriert Erich Fromm den Prototyp eines non-konformistischen Pragmatisten, dessen intellektuelle und gesellschaftspolitische Wirkung ohne allzuviel manieristischer Theoretisierung auf zahlreiche pragmatische Non-Konformisten ausgestrahlt hat, beispielsweise auf den Träger des Fromm-Preises (2010) der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft, den weltweit bekannten Linguisten und integren Gesellschaftskritiker Noam Chomsky, der seinerseits ein wichtigen Einfluss auf das Fromm’sche Denken hatte.